Christliche Erziehungswissenschaften … (1959)

Der folgende Artikel erschien am 1.März 1959 im „St. Willibalds Bote“ (Kirchenblatt der Diözese Eichstätt). Die folgende buchstabengetreue Abschrift aus einem Belegexemplar der Bayerischen Staatsbibliothek, München, soll hier als nur ein Beispiel zeigen, dass selbst innerhalb der kath. Kirche schon sehr frühzeitig gegen körperliche Bestrafung argumentiert wurde und dass die körperliche Züchtigung auch in den 60er Jahren bereits höchst umstritten und nicht mehr der gesellschaftlich übliche Umgang war, wie es beispielsweise Herr Georg Ratzinger glauben machen möchte.

Christliche Erziehungswissenschaft und „Prügelstrafe“

Von Dr. Henz, Professor für Erziehungswissenschaft an der Pädagog. Hochschule in Eichstätt

Da die Diskussion in der Öffentlichkeit über das Erziehungsmittel „Prügelstrafe“ wieder in Gang gekommen ist, möge es auch der Wissenschaft von der Erziehung gestattet sein, in dieser Diskussion ein Wort zu sprechen.
Unter der Vielzahl der erziehlichen Mittel und Wege stellt die Erziehungswissenschaft eine Gruppe als außerordentliche besonders heraus und bezeichnet sie damit als solche, die neben dem normalen Weg einen gewissen erzieherischen Umweg beschreiten. Es sind das Lob und Tadel, Belohnung und Strafe.
Da man sich beim Benützen dieser Mittel auf einen Umweg begibt, sind sie nicht ungefährlich. Besonders die Strafe, die hier zur Debatte steht, wird in der neueren Erziehungswissenschaft immer fragwürdiger, da sie wiederum unter den außerordentlichen Erziehungsmaßnahmen die größten Gefahren in sich birgt. Strafen bestehen im Wesen in der Zufügung seelischer oder körperlicher Schmerzen. Sie dienen der Vergeltung und Sühne, auch der Abschreckung , in der Erziehung vor allem der Besserung. Schmerzzufügung wird leicht sadistisch (Sadismus = Lust am Quälen). Besonders in der Beschämung, Bloßstellung, Demütigung in der seelischen Schmerzzufügung und im Ohrenkneifen, Haarziehen, bei der Kopfnuß, dem Schütteln, Ohrfeigen, Rutenschlagen, Peitschen und Prügeln in der körperlichen Schmerzzufügung besteht diese Gefahr. Prügelstrafe als Einzelform der Strafe nennt man gewöhnlich massive körperliche Schmerzzufügung unter Zuhilfenahme eines Stockes, einer Rute u.ä. Diese Form ist zu unterscheiden vom leichten Klaps und von der leichten symbolischen Schmerzzufügung (etwa mit einem kleinen Stock ein leichter Schlag auf die Hand).
Von allen Mädchen, von kleineren Kindern und von schwächlichen und nervösen Kindern sollten Körperstrafen grundsätzlich ferngehalten werden. Auch Jungen in der Pubertät dürfen aus ernsten Gründen nicht mehr „übergelegt“ werden. Im übrigen besteht in der ganzen Erziehung die Tendenz zur Symbolisierung der Strafen, ähnlich wie in der Bußpraxis der Kirche.
Was sagt im besonderen die christliche Erziehungswissenschaft? Fragen wir unsere Autoritäten!
Solche Autoritäten sind heute in der katholischen Pädagogik: der hl. Don Bosco, Pater Flanagan, der Altmeister der kath. Pädagogik in Deutschland: Friedrich Schneider.

Der hl.  D o n  B o s c o :  „Körperliche Züchtigungen, welcher Art sie auch seien . . .  sind strengstens verpönt. Nicht nur, weil das Gesetz sie verbietet, sondern weil sie die Kinder reizen und den Erzieher selbst erniedrigen.“ (Don Bosco lehnt die vorwiegend strafend-unterdrückende Methode, die Repressiv-Methode, ab und entwickelt seine vorbeugende Methode, die Präventivmethode. In den 1076 Niederlassungen der Salesianer  wird heute mit großem Erfolg nach dieser Methode erzogen.)

Edward Joseph  F l a n a g a n ,  kath. Priester, Begründer der Jungenstadt Boys Town: „Wer einen schon verständigen Jungen schlägt, der muß ein dickfelliges Gewissen haben.“ In neun von zehn Fällen ist die körperliche Züchtigung ein Eingeständnis der Schwäche.“. „Abgesehen davon, dass man sich mit der körperlichen Züchtigung den Jungen zum Gegner macht, ist sie auch die Ursache für unsoziale Haltung und unsoziales Verhalten. Brutalität erzeugt Brutalität; Haß schafft Haß; Feindseligkeit Feindschaft; Ärger wieder Ärger.“ „Die körperliche Züchtigung, das ist die Wahrheit, leugnet die geistige Würde der Persönlichkeit.“ „Diese Strafmethode geht an der Lösung der Probleme vorbei, die für die Charakterentwicklung ausschlaggebend sind.“ (Zitate aus: „Verstehe ich meinen Jungen und erziehe ich ihn richtig? Herder-Bücherei, Band 32.) Flanagan hat in seiner Jungenstadt bis 1948, seinem Todesjahr, etwa 6.000 Jungen, darunter ca. 20 % „Kriminelle“, mit Erfolg erzogen.

Prof. Dr. Friedrich  S c h n e i d e r ,   Professor für Pädagogik an der Universität München, Herausgeber vieler Schriften kath. Pädagogik , Autor der „Katholischen Familienerziehung“: „Der Erzieher, der von der Prügelstrafe Gebrauch macht, kann einfach nicht jedem Fehler in ihrer Anwendung und deren üblen Folgen entgehen . . . Nur durch völlige Prügelabstinenz wird er sie, die von ihm selbst nicht gewünscht wurden, vermeiden können . . .  – Zum Denken geben sollte . . ., dass man auch in der Dressur wilder Tiere die früheren barbarischen Methoden aufgegeben hat, nicht mehr mit der Peitsche und dem glühend gemachten Eisen operiert und trotzdem große Dressurerfolge erzielt. Was bei schwererziehbaren Jungen und in der Tierdressur möglich ist, sollte in der Familienerziehung unmöglich sein:  Erziehung ohne Anwendung körperlicher Züchtigung?“

Die Menschen der Vorgeschichte und die „Natur“-Völker der geschichtlichen Zeit zum Teil kannten die Erziehungsmethode des Prügelns nicht. Erst die auf Krieg, Gewalt und Sklaverei gegründeten Kulturen brachten diese Methode aus der allgemeinen Menschenbehandlung in die Erziehung. Heute sollten wir in einer freieren Ordnung diese Formen wieder überwinden.
Es zeugt von mehr Kraft und Selbstzucht, auf ein triebgeladenes, trübes Mittel in der Erziehung zu verzichten, als sich dem Brodeln der Wut, des Zornes, den untergründigen Spannungen zu überlassen und sie an Kindern auszutoben. Die Vorbildwirkung der Selbsterziehung und Selbstbeherrschung des Erziehers wird sich im Kinde lohnen.
Es zeugt von mehr erzieherischer Phantasie und Begabung, durch Vorbeugen, durch Abregungen, Aufträge, Arbeit und Spiel, durch Verantwortungen und Anerkennen und durch die vielen anderen Mittel positiver Erziehung, vor allem aber durch das eigene religiös-sittliche Beispiel zum vollen Menschentum zu führen, als durch die immer leicht „zuhandene“ Ohrfeige oder sonstige Bearbeitung der äußeren Hautfläche. Wir wollen eine Erziehung zur Zucht, aber nicht durch Prügel, sondern in erster Linie durch größere Selbstzucht der Erzieher.