Engelamt
Donnerstag war Engelamt. 6 Uhr aufstehen, ob’s hell war oder dunkel, Sommer oder Winter, bei jedem Wetter und unter allen Umständen. 6 Uhr Aufstehen bedeutete nicht nur eine halbe Stunde früher aufstehen als sonst, sondern einzeln aus dem Schlaf gerissen werden vom jeweils zuständigen Präfekten durch Rütteln an der Schulter, Bettdecke wegziehen und Taschenlampenblendung. Es sollten ja nicht alle im Schlafsaal geweckt werden, sondern nur die Chorhanseln, die gefordert waren. Das Licht wurde nicht angeschaltet, sondern wir schlichen – bettwarm aus unseren Träumen gerissen – im Dunklen und schlaftrunken rammdösig, aber so hastig wie nötig in den Waschraum, absolvierten fröstelnd eine Katzenwäsche, und hatten uns so still wie nur irgend möglich anzuziehen, um punkt halb sieben an der Pforte der Dompräbende anzutreten – in Reih und Glied unter strengstem Silentium. Zum Reden war ohnehin kaum jemand zumute, aber ein wenig Gemoser und Gemecker über die Frühe des Morgens, die Kälte der Luft oder den allgemeinen Stimmungspegel hätte unseren abrupt aus der Nachtruhe gezerrten Seelenhaushalten doch gut getan. Die Laune blieb entsprechend gedämpft. In der kalten Jahreszeit wurden wir vom Kaffbomber gefahren, dieser einmaligen Reisebus-Sonderanfertigung speziell für die Domspatzen, rundum verglast, mit erhöhtem hinteren Fahrgastraum über voluminösem Gepäckbauch drunter, – dann war’s ja noch kommod. Der Hausmeister war nebenberuflich der Busfahrer. Er kurvte zuverlässig die gesamte Mannschaft durch die menschenleere Innenstadt zum Dom, der etwa zwei Kilometer entfernt lag, und wir konnten während der Fahrt im Warmen schunkelnd weiterdösen. Je gewagter die engen Altstadtkurven genommen wurden, desto gemütlicher.
Meistens aber zogen wir zu FuĂź in Zweierreihen mit erhöhtem Schritttempo durch die unbelebten Gassen zur Altstadt, beaufsichtigt von der diensthabenden „Männerstimme“, irgendeinem beflissenen Oberstufen-SchĂĽler, der sich fĂĽr diesen Job anerboten hatte, aus welch unerfindlichen GrĂĽnden auch immer. Die einzigen Geräusche auĂźer entferntem MĂĽlltonnengeklapper und einigen entfernt röchelnden Autos erzeugten unsere eiligen Trippelschritte und das Gurren der Tauben. Das Murren der Hörenden blieb unerhört: Was soll denn dieses blöde Engelamt?! Kein Mensch da auĂźer uns Sängern, den Priestern und Ministranten, den gelangweilt teilnehmenden Domherren winters im Hermelinumhang zwischen den reich verzierten Ohrenbacken des ChorgestĂĽhls und dem Organisten hinterm Altar, der sich an einer Heizsonde die klammen Finger wärmen konnte, vielleicht, wenn’s hochkam, im dĂĽsteren Mittelschiff zwei unentwegte alte Frauen mit KopftĂĽchern, die an seniler Bettflucht gelitten haben mögen, ansonsten eine reine Geisterveranstaltung mit Pomp und Gloria und sogar anschlieĂźender Prozession mit Monstranz und Himmel und Weihrauchschwaden durch den eiskalten, dunklen Dom, der einem den Hauch vorm Mund gefrieren lieĂź. „Tantum ergo sacramentum“ wurde dazu mindestens vierstimmig gesungen, frei ĂĽbersetzt in die Sprache der Renitenteren: „Na, so viel Ă„rger also! Sakrament!“ Es war das sinnentleerteste musikalische Projekt ĂĽberhaupt, da es kaum jemand zu hören bekam. Aus Sicht des Klerus die reinste, höchste Form dessen, was sie berufsmäßig zu veranstalten pflegen: Gottesdienst! Reinster Gottesdienst. Gottesdienst in seiner transzendentalsten Form, als Feier fĂĽr IHN, den Allmächtigen, ganz allein! Ich fragte mich oft, ob Gott um diese frĂĽhe Zeit schon aufsteht. Also, wenn ich Gott wäre, … Welch häretischer Gedanke! Schon wieder eine SĂĽnde. Oh Gott!
Ogottogott! Wir standen hier ganz allein und ausschließlich nur für den Herrn und seine Engelsheerscharen und sangen uns die Kehlen aus dem Hals – umwabert von Wolken morgendlichen Mundgeruchs allgemeiner Unausgeschlafenheit. Betende Gemeinde brauchte man dazu keine. Fußvolk ist generell vernachlässigbar, wenn ein Bischof Selbstbefriedigung betreibt. Oft war tatsächlich der Bischof höchstselbst der Zelebrant, es war seine Privat-Morgenmesse, die er ohnehin zu feiern gehabt hätte. Wozu brauchte er da uns? Sein Engelamt ist eine Inszenierung ohne Publikum. Es war auch keine Probe, da bei all der Routine nichts zu probieren war. Es ist die pure Traditionspflege, reine Zeitverschwendung, da Gott, bei mir jedenfalls, zu keiner Minute anwesend war. Er schlief bestimmt noch. Ich auch beinahe. Manche sind wirklich eingenickt bei dem Salbader. Sie wurden von einem erbosten Domkapellmeister unsanft aufgeschreckt. Sein kugelrunder Kopf lief dann rot an, wenn er gewahr wurde, dass wir die hohle Zauberveranstaltung nicht ernst genug nahmen. Aus seinem Überbiss sprühten dann spratzelnd unflätige Beschimpfungen, die der sakralen Situation diametral zuwider liefen. Nur gut, dass es das gläubige Volk nicht hören konnte. Es hätte auch nicht viel verstanden, abgesehen davon. Das Engelamt wurde ganz traditionell in Latein gelesen. Wir hatten passenderweise in der ersten Stunde Latein, und ich hätte noch Vokabeln lernen sollen, schoss es mir durch den Kopf. Zu spät!
Zum Glück traf’s mich nur jeden zweiten Donnerstag, da es zwei Konzert-Chöre gab, den Palästrina-Chor, dem ich angehörte und den Orlando-di-Lasso-Chor, der dem Dirigat eines Neffen des vormaligen Domkapellmeisters Schrems unterstand. Wir nannten ihn „Ente“ wegen seines leicht watschelnden Gangs, der etwas unbeholfen wirkte, aber musikalisch war er voll auf der Höhe, und vor allem menschlich war er durchaus beliebt und geschätzt, wenn auch nicht vom Domkapitel. Zu weltlich, der Mann, zu menschlich! Darum drückte es Herrn Ratzinger alias „Cheef“, ihn hierarchisch die zweite Geige spielen zu lassen, obwohl die beiden Konzertchöre formal gleichwertig nebeneinander standen, und sich die mannigfachen Verpflichtungen zu teilen hatten. Konzertreisen, Schallplattenaufnahmen und Fernseh-Auftritte, Weihnachtsfeiern und Prominenten-Begräbnisse, Maiandachten und Christkindlmarkt-Eröffnungsfeiern, Aschermittwochs- und Gründonnerstags-Zeremonien (mit Fußwaschungen) und allerlei Vespern (nachmittags), Matutines (vormittags) und Metten (mitternachts), toutjour durch’s ganze runde Kirchenjahr, ein Dauerbeschäftigungskalender im Jahreskreis eines rituellen Hamsterrades. Denn Hauptaufgabe und eigentliche Zweckbestimmung des Instituts, seine Existenzbegründung waren die umfangreichen liturgischen Pflichttermine, die halbe Karwoche im Dauereinsatz, Weihnachten, Ostern und Pfingsten gleich doppelt, jeden Sonn- und jeden Feiertag (außer dem 1. Mai, wenn er nicht gerade auf einen Sonntag fiel, denn der war dann doch zu profan und gewerkschaftlich, obwohl das Datum kirchlich gesehen dem Heiligen Joseph, dem Zimmermann und Stiefvater des Allerhöchsten Herrn Jesus Christus, also einem in der Heiligen-Hierarchie durchaus nicht zweitrangigen Tagespatron gewidmet war). Abwechselnd waren die Sonntags-Hochämter zu versehen, mal sang der eine Chor die Weihnachtskonzerte in München im Herkulesssaal, dann der andere im Cuvilliéstheater.
Seltsamerweise sangen wir jedes Jahr am Kriegerdenkmal im Stadtpark beim Volkstrauertag, wenn die geschlagenen Weltkriegshelden sich selbst feierten, indem sie die für eine Wahnidee Gefallenen auf ihre Weise ehrten: Respektable Abordnungen der Bundeswehr, der Trambahnschaffner, der Polizei, der Feuerwehr, des Technischen Hilfswerks, der Kolping-Familie, der US-Army, des Katastrophenschutzes, des Bundesgrenzschutzes sowie diverser trutziger Kriegervereine und Kameradschaften, der Stadt, des Landkreises, der Regierung der Oberpfalz, verschiedener Heimatvereine, Heimatvertriebenen-Verbände und nicht zuletzt auch der Parteien inclusive der NPD legten unter würdevollem Einherschreiten mit eiserner Miene ihre Kränze und Blumengebinde ab, rückten die golden und silbern geprägten Widmungsschleifen zurecht und entboten den „Kameraden“ einen letzten „stillen“ Gruß, indem sie die Trachtenhüte abnahmen, ihre kahlen Häupter senkten oder militärisch salutierten, um dann zackig wegzutreten. Die Litanei, die wir dabei zu singen hatten, muss endlos lang gedauert haben, deutlich länger als das obligatorische Trompetensolo „Ich hatt’ einen Kameraden“, das noch schräger klang als ein allerletztes Halali. Wahrscheinlich waren die besten Trompeter auf den Schlachtfeldern geblieben. An solchen Novembertagen fror einem nicht nur wegen der unwirtlichen Außentemperaturen der gesamte Körper kehleabwärts ein – den einen vor Ergriffenheit, den andern vor Abscheu ob dieses ewiggestrigen Zeremoniells der immer noch Unbelehrbaren, den meisten aber vom allzu langen Stillsteh’n bei zunehmendem Harndrang. Manches Augenglitzern galt aber auch nur dem baldigen Schweinebraten. Singen zu solchen Anlässen lief glücklicherweise so nebenher, die hohe Kunst war das nicht. Maiandachten, Weihnachtsfeiern, das waren lästige Pflichten. Die regelmäßigen Hochämter waren verpflichtende Belastungen.
Wesentlich interessanter und künstlerisch anspruchsvoller waren die Konzerte. Es gab „weltliche“ und „geistliche“. Die weltlichen kamen nicht ohne „Ein Jäger aus Kurpfalz“ aus als Zugabe – das war unser Rausschmeißer, und er klang allemal um Klassen frischer als das falsche Halali vom Kriegerverein. Dennoch dünkte mir die Kirchenmusik damals deutlich ergiebiger. Wir waren doch keine Wiener Sängerknaben oder Windsbacher, dachte ich. Die einzig vergleichbaren Chöre im deutschsprachigen Raum waren der Kreuzchor aus Dresden und die Thomaner aus Leipzig, aber die waren weit weg wie in einer anderen Welt. Mehr kannte ich nicht. So wurde uns ein elitärer Sakral-Dünkel angezüchtet, der uns noch jahrelang anhaften sollte. Während sich eine ganze Generation um die Glaubensfrage „Beatles“ oder „Rolling Stones“ ereiferte, war für mich die Musikgeschichte mit Carl Orff zu Ende. Den hatte ich noch in der Augustenschule in Regensburg persönlich erlebt, als er mit uns sein „Schulwerk“ probierte. Ich durfte mich also mit Fug und Recht Orff-Schüler nennen. Sowas macht ignorant. Jazz, Beat, Rockmusik habe ich erst in den Pubertätsjahren zu schätzen gelernt, und vor allem auch aus Protest gegen den Zeitgeist. Ich erinnere noch den Ausspruch (wahrscheinlich nicht nur) meiner Mutter: „Mach endlich diese Negermusik aus!“ Dabei waren es die Beatles.
Die Zuteilung der Auslands-Konzerttourneen wurde misstrauisch beargwöhnt, und wenn der eine Chor nach Japan fuhr, und der andere die dreiwöchige Bädertour durch norddeutsche Kurorte abbekam, dann waren Konkurrenzdenken und Sticheleien angesagt. Und das weit weniger unter den Knaben als zwischen den Chorleitern. Offen durften diese nicht ausgetragen werden. Doch immerhin so heftig, dass der eine, der nicht den Rückhalt von „ganz oben“ genoss, darunter offensichtlich litt. Sein abruptes Lebensende durch Sturz von der Nibelungenbrücke hinterließ einen Schock, den sein Konkurrent (von Amts wegen ohnehin im Vorteil gewesen) erstaunlich unangefochten überstand. Niemand wagte dem Überlebenden dieses nicht stattgefundenen Duells offen Vorwürfe zu machen, der chronisch schwelende Konflikt und seine akute Lösung wurden nie analysiert und aufgearbeitet. Gerüchte machten die Runde. Von Unfall nach plötzlicher Herzattacke bis hin zum Freitod aus Verzweiflung schien alles möglich. Letzteres galt als „unfassbarer Entschluss“, als ein „tragisches Rätsel“ und – da Selbstmord der Kirche als Todsünde gilt – eine „kardinale Fehlentscheidung“, eine „unerklärliche“ – will sagen: „unverzeihliche“ – „Kurzschlusshandlung“, über die alle sehr betroffen schnell wieder zur Tagesordnung übergingen. Die Unfall-Hypothese wurde damals deutlich weniger in Betracht gezogen. Kurz vorher soll es einen heftigen Streit mit dem Domkapellmeister gegeben haben. Allen war die Konkurrenz der beiden Chorleiter bekannt. Hans Schrems war gewiss der bessere Pädagoge. Sein Lasso-Chor sang nicht schlechter als der Palästrina-Chor, mit hervorragenden Solisten, und feierte mindestens ebenso große musikalische Erfolge, wenn man den Kritiken glauben durfte – und das ganz ohne Ohrfeigen, Haarzwirbeln und cholerisches Herumbrüllen. Es ging auch ohne Züchtigung. Ich war dagegen dem Monsignore Georg Ratzinger zugeteilt, dem Bruder des späteren „bayerischen“ Papstes, und hörte daher öfters die Englein singen.
Nach dem Engelamt wie auch nach sonstigen vormittäglichen Einsätzen während der Schulzeit tauchten wir ein in die Alltagsroutine, als hätten die Dienste nicht stattgefunden. Zwar wurde man von manchen Lehrern zunächst kurz etwas geschont, aber spätestens in der zweiten Stunde danach konnte auch schon wieder eine Schulaufgabe geschrieben werden, wenn’s blöd lief. Das Wiedereintreten aus den sinnentrückten Weihesphären in die profanen Schulunterricht konnte einen schon sehr fordern, obwohl wir uns vorher nichts sehnlicher gewünscht hatten als in einen geheizten Raum zu kommen. Aber musste es gleich mit Latein weitergehen? Zur Akklimatisierung blieb keine Zeit. Nach der Rückkehr aus den heiligen Hallen des Hohen Doms hasteten wir gehetzt durch die linoleum-miefige Aula mit den verstaubten Gummibäumen – husch! – in den bereits leergefrühstückten Speisesaal, dessen lange Tischreihen gerade abgeräumt wurden, wo wir uns noch einen Schluck Vierfruchttee hinter die heiseren Stimmbänder kippen konnten, und wenn wir Glück hatten, noch eine Semmel bekamen statt einer Scheibe Schwarzbrot vom vergangenen Tag, um diese mit ebenfalls vierfruchtiger Marmeladenpampe zu bestreichen. Kurzes Gemampfe. Dann, ruckzuck, in den Studiersaal hochgerannt, die Schultasche geschnappt (meist fehlte noch irgendetwas Wesentliches, wenn nicht sogar die Hausaufgaben!) und wieder runtergetrappelt ins Klassenzimmer, wo die anderen bereits entspannt dem Unterricht folgten. Entspannt, weil zumindest eines klar war: Am Donnerstag in der ersten Stunde werden grundsätzlich keine Extemporalien geschrieben. Das war aber auch der einzige praktische Nutzen dieser Donnerstags-Hochämter, von denen außer dem regulär involvierten, umfangreichen Personal keine Menschenseele Notiz nimmt. Selbst die Anwesenden wirkten in ihrer Morgenverschlafenheit wie leblose Körper. Niemand wusste genau zu erklären, worauf dieser Brauch zurückzuführen war, und wieso er so zählebig fortgesetzt werden musste. Wahrscheinlich wussten das nur der Bischof und seine eingeschworenen Domkapitulare. Mir blieb es ein immerwährendes Mysterium Fidei. So entstehen die Glaubensgeheimnisse: Nichts genaues weiß man nicht, es ist halt so der Brauch: Donnerstag war Engelamt. Das Engelamt war seit jeher immer donnerstags. Oder um es mit den Worten eines Kabarettisten zu sagen: „Missbrauch war da bestimmt keiner. Denn es war der Brauch“.