Stockschläge und Stoßgebete

Man sollte als Masochist geboren werden, dann ließe sich das Leid im Leben viel besser ertragen. Zumindest als kleiner Internatszögling in den Klauen eines Sadisten im Priestergewand, der Internatsdirektor, Religionslehrer und Beichtvater in einem ist. Die Schläge ließen sich dann sogar genießen, man gierte danach bestraft zu werden. Man freute sich auf die nächste Züchtigung mit dem Rohrstock anstatt vor ihr zu bangen, albzuträumen und zu zittern. Oder als Sadist. Dann ließe sich ungehemmt austeilen, ohne Rücksicht, eiskalt, und mit jenem Überlegenheitsgefühl, das der sadistische Priester, der vom Hitlerjungen zum Panzersoldaten mutiert und nach dem Krieg als „spätberufener“ reuiger Sünder in den Schoß der alles verzeihenden Kirche eingetaucht war, kultivierte, dabei seinen psychischen Panzer, den er sich im verheerten Osten zugelegt hatte, jedoch nie wieder abzulegen vermochte. So einen hatte man auf uns losgelassen, auf uns Vorschul-Domspatzen, die dereinst zur höheren Ehre seines grausam strafenden Gottes im Hohen Dom zu Regensburg tirilieren sollten, oder nur zur Erbauung des Bischofs und seines Domkapitels ohne jegliches Publikum. Ich war aber weder Masochist noch Sadist. So also fühlte ich mich ziemlich aufgeschmissen.

Was empfindet ein Kind, das sich, bis vor kurzem noch von einer liebevollen Mutter umsorgt, plötzlich auf sich allein gestellt einem Prügelregiment ausgesetzt sieht, das unbarmherzig zuschlägt, wann immer es sich des kleinsten Verstoßes gegen eine undurchschaubare Ordnung, der geringsten „Sünde“, des lächerlichsten Vergehens „schuldig“ gemacht, zumindest dessen geziehen wird? Es empfindet nichts als Ohnmacht, Entwürdigung, Angst und körperliches Leid in Form brennender Schmerzen, die oft Stunden lang anhalten und die permanente Furcht vor neuen, noch schlimmeren Schmerzen. Es findet keinen Zugang zu irgendeiner Einsicht, nicht einmal zu devotem Verhalten, das vielleicht beabsichtigt war. Es tut ihm einfach nur grausam weh. Und es kann sich nicht wehren, dem Strafregime nicht entkommen. Es befindet sich in einer aussichtslosen, kafkaesk anmutenden Situation. Es wird auch nicht widerständisch, begehrt nicht auf, denn es scheint sinnlos, dieser „Ordnung“ etwas entgegensetzen zu wollen. Alle Versuche bleiben vergeblich, es trifft dich immer wieder, egal, wie du dich verhältst. Der Alltag bietet so viele Vorwände für Bestrafung. Und am Ende denkst du: Es wird wohl seine „göttliche Ordnung“ haben, wenn es dich immer wieder trifft. Dabei bist nicht du es, der sich die Prügel „verdient“, sondern das Auge des Präfekten, das sich dich herausgepickt hat, und nur darauf lauert, jeden noch so fadenscheinigen Vorwand für eine Rohrstock- Behandlung weidlich zu nutzen. Wenn dich einer auf dem Kieker hat, dann nützt es nicht einmal sich „unsichtbar“ zu machen, sich möglichst angepasst zu benehmen, jedes Fettnäpfchen zu meiden. Den allzu „Braven“ stellen dann die Kameraden ein Bein. Und schon haben sie dich wieder.

Du könntest leicht einen Verfolgungswahn bekommen, wenn der „Erzieher“ Lust daran bekommen hat sich ausgerechnet an dir gütlich zu tun. Vielleicht, weil du es so tapfer erträgst, und nur verschämt den Rotz hochziehst, vielleicht aber auch, weil du so gottserbärmlich weinst und wimmerst. Vielleicht auch nur, weil du ihm zur Nase stehst, und er dir körperlich nahe sein will mit seinem verlängerten Pimmel, der mal ein Bambusrohr, mal eine Weidenrute sein kann, mal ein ausgedienter Geigenbogen oder ein Kleiderbügel. Die sexuelle Komponente an solchen Züchtigungsritualen nimmst du als unbeleckter „Normalo“ nur sehr unterschwellig wahr, etwa im Blitzen der Augen des Peinigers im Moment des Zuschlagens, oder an der Art, wie er das Instrument vor der Straf-Exekution prüfend in seinen klobigen Fingern wiegt, den Stock genüsslich biegt mit versonnenem Lächeln, und sich Zeit lässt. Der Knabe indes, der weder Freude am Schlagen noch am Geschlagenwerden empfindet, sondern nur panische Angst hat vor dem bevorstehenden Schmerz, ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt in diesen sich zu Minuten dehnenden Sekunden, bevor der erste wuchtige Schlag pfeift, als dass er dieses Ritual als Teil einer erotischen Veranstaltung begreifen könnte. So konnte das „pädagogische“ Personal jahre-, jahrzehntelang seinen Gelüsten frönen, ohne dass seine Übergriffigkeit ruchbar wurde als das, was sie in Wirklichkeit war: Pures Ausleben ihres Sadismus in einem ganzjährigen Sado-Maso-Club mit ahnungslosen Opfern und still genießenden Tätern. Und jedes Schuljahr kam neues „Frischfleisch“ dazu.

Ich kam sehr ahnungslos ins Domspatzenheim über Etterzhausen, an einem milden Herbsttag des Jahres 1965. Die Laubfärbung war schon weit fortgeschritten, aber die Blätter hingen immer noch wie lederne Lappen an den Bäumen des nicht enden wollenden Laubwaldes der Oberpfälzer Jura-Anhöhe, über die das Auto des Vaters eines meiner bisherigen Klassenkameraden aus der Volksschule hinaufkroch. Ich hatte gelernt, mich neuen Situationen anzupassen, und hoffte, dass mir auch die Umstände dieses neuen Lebensabschnitts bald vertraut sein würden. Dennoch, ein leichtes Grummeln im Magen ließ sich nicht ignorieren, und das kam gewiss nicht vom Autofahren. Als sich der Wald lichtete, und der Wagen in weitem abschüssigen Bogen auf den Internatskomplex zurollte, nahm ich zunächst den Wellblechkasten des „Neubaus“ wahr, der auf der kahlen Ebene die weithin gestreckten „Altbauten“ überragte. Er hatte den Charme eines Flugzeug-Hangars, modern und zweckmäßig, er wirkte auf mich fast improvisiert, ringsum ein Schotterbeet. Die Straße quirlte vor Eltern, aus deren PKWs die neuen Zöglinge stiebten wie kleine Spatzen, die sie ja nun werden sollten. Die meisten schleppten Gepäck, als würden sie für immer auswandern. Ich hatte nur einen Koffer und eine Reisetasche voller Klamotten, die meine Mutter so platzsparend wie möglich gepackt hatte. Manche tobten bereits auf dem Fußballfeld, als wären sie schon immer da gewesen, andere tummelten sich in Gruppen am Eingang, zu dem eine breite Betontreppe hinabführte. Einer schien sehr bedrückt, ein anderer grüßte mit herausfordernd ins Genick geworfenem Kopf, dass ihm seine Haartolle fast davongeflogen wäre. Ich grüßte stumm, etwas scheu, zurück. Das war schon mein erster „Freund“, wie sich bald herausstellen sollte. Seltsam, wie Sympathien und Antipathien sich von der ersten Sekunde an Bahn brechen. Dass ich den Knaben, mit dem meine Mutter und ich angereist waren, nicht sonderlich mochte, wusste ich bereits seit zwei Jahren. Aber wir ließen uns das vor unseren Eltern nicht anmerken. Später gingen wir uns einfach aus dem Weg. Nur zu den Ferien, wenn uns sein Vater mit seinem Simca abholte, manchmal in Vertretung seine ältere Schwester, taten wir so, als kämen wir prima miteinander aus. Dabei hatten wir nichts miteinander zu tun.

Der erste Weg war ins Büro des Direktors: Ein Priester im schwarzen, speckig glänzenden Anzug mit einer goldgeränderten Brille, immer mit einer glimmenden Zigarette im Mundwinkel, die oft bis zum Filter herabgebrannt bereits ausgegangen war, bevor sie von einer neuen HB ersetzt wurde. Der Mann war Kettenraucher, wie man selten einen erlebt. Sein Griff nach der Schachtel vollzog sich wie automatisch, sobald der Stumpen zu kurz wurde, um noch zu qualmen. Es schien mir, als bräuchte er das beißende Brennen in den Augen, das sich in der halben Länge einer Zigarette besonders wirkungsvoll einstellte, wenn der Rauch im richtigen Abstand zu seinem Gesicht nach oben schmauchte. Dann kniff er die Augen, als lächelte er, wenn auch etwas schmerzlich. Zu meiner Mutter war er zuvorkommend und überaus höflich, mich beachtete er zunächst kaum. Nur seinen Händedruck nahm ich als unangenehm wahr. Ich weiß nicht genau warum, damals freilich noch weniger als heute. Rückblickend könnte ich es als vage Ahnung benennen, aber ich wusste ja nicht, was diese Hände noch alles verrichten würden an meinem Körper. An meine Seele kamen sie von Anfang an nicht heran. Vielleicht habe ich es deshalb so halbwegs unbeschadet überstanden, zumindest ohne zu zerbrechen. Meine Mutter musste noch so allerhand Papiere in Empfang nehmen, unterschreiben und „gegenzeichnen“, wie er das nannte. Der Papierkram interessierte mich weniger als der Gummibaum, und durch das wandhohe Fenster konnte ich die gegenüberliegenden Höhenzüge erkennen, jenseits des Tales, in dem das Dorf lag, in das ich fortan nie würde gehen dürfen, aber das wusste ich jetzt noch nicht. Ich wusste überhaupt wenig von dem, was mich erwartete, und hatte auch keine Angst davor. Das einzige, was ich sicher wusste, war meine Wäschenummer.

Jeder hatte seine Erkennungsnummer zugeteilt bekommen, und meine Mutter hatte in jedes Hemd, in jedes Unterhöschen, natürlich auch in Handtücher, Stofftaschentücher und sogar in die Socken solch eine Nummer, die es am Endlosband zu kaufen gab, eingenäht während der letzten Wochen. Ich war komplett ausgestattet für ein viertel Jahr, und brauchte jetzt nur noch ein Bett zugeteilt bekommen. Ausweislich meines Namens am Anfang des Alphabets wanderte ich in den Schlafsaal 1, direkt am Beginn des langen Ganges, der an einer Seite verglast, auf der anderen von einer endlosen Reihe schmaler Spinde gesäumt war, in welche die Habseligkeiten zu verstauen waren, natürlich streng reglementiert und durch Fächer, Kleiderstange und ein Fach für Wertsachen zwingend vorgegeben. Das Einräumen ging dank Mutters Umsicht rasch vonstatten, ich belegte ein Bett direkt am Eingang, mit „Aussicht“ nach beiden Seiten, zum Flur hinaus und auf den Wald, aus dem ich gekommen war, und zu den hohen Fenstern, die die gesamte Raumbreite einnahmen, mit Blick aufs Tal bzw. die Anhöhe gegenüber. Als Feriendomizil wäre das durchaus komfortabel gewesen, doch ich hatte noch nicht begriffen, dass ich während der Schulzeit hier zu sein hatte, und in den Ferien zuhause. Das Ablagebrett für die Seife mit dem dazugehörenden nummerierten Haken im Waschraum konnte ich mir nicht aussuchen, und eben so wenig den Platz im Speisesaal, in den wir zum ersten Mal zur Teepause geführt wurden. Da war meine Mutter bereits entschwunden, und ich hatte ihren Abschiedsschmerz bei der Abfahrt gar nicht so richtig nachempfinden können. „Ist ja nur bis zu den Herbstferien“, tröstete ich sie. Für Heimweh hatte ich vorderhand gar keine Zeit. Zu neugierig war ich als 8-Jähriger auf all das Unbekannte, auf die neuen „Kumpels“, auf das eingezäunte Gelände draußen, das, soweit es zugänglich war, allerhand interessante Ecken bot, einen Abhang mit Büschen beispielsweise, direkt am Zaun zum Dorf hinunter, durch dessen Bewuchs sich Trampelpfade zogen, die wir immer verschlungener austraten bei jedem Räuber- und Gendarm-Spiel, mit jedem Winnetou-Abenteuer breiter und sandiger. Aber bereits zum Abendessen wurde Klartext gesprochen: Während des Essens hat grundsätzlich Silentium zu herrschen. Nichts war es mit gepflegter Unterhaltung, während wir aus verbeulten Blechkannen unseren Vierfruchttee in Plastiktassen gossen. Am Nachmittag war das noch ganz anders gewesen, solange noch Eltern im Hause waren. Da wurde munter geschwatzt und gelacht, gefeixt und getratscht.

Nun war Ruhe. Absolute Ruhe. Man hörte nur das Klappern des Aluminiumbestecks, hin und wieder ein Schmatzen oder ein Tellerrücken. Rülpsen wäre schon zu viel gewesen. Tuscheln war nicht. Mit Argusaugen saß der Direktor mit dem Gesangslehrer, dem Schullehrer, der keine Familie hatte (der andere aß in seinem Bungalow) und abwechselnden Gästen, Violin- oder Klavierlehrern, auf einem Podium an der Stirn des Saales, und überwachte das große Schweigen. Das Schweigen der Küken, angeblich um die Stimme zu schonen, aber auch einfach, weil es als ehernes Gesetz galt. Beim Essen wird allenfalls gebetet, und dann stillschweigend ausgelöffelt, was die Küche „uns bescheret hat“. Herrn Jesus habe ich freilich nie am Herrentisch gesehen, obschon wir ihn so inständig gebeten hatten, doch „unser Gast“ zu sein. Nach der halben Stunde Abendessenszeit gab es selbstredend auch ein Dankgebet, das laut und deutlich zu sprechen, keinesfalls routiniert zu murmeln war. Selbst für  nachlässiges Beten mit Blick zum Fenster oder mit nicht korrekt gefalteten Händen gab es Rüffel, Ermahnungen, und später auch härtere Abstrafungen. Man hatte gefälligst geradezustehen mit durchgedrücktem Kreuz und frommem Blick auf dasselbe hinten an der Ziegelwand. Kasernenhofmäßiges Beten war schon eine neue Erfahrung. Bis dahin dachte ich immer, das sei so etwas wie eine „Zwiesprache mit Gott“. Weit gefehlt! Es war ein schikanöser Appell, nichts weiter als banale Disziplinierung. So lehrt man Untertanen, so werden Duckmäuser und Befehlsempfänger erzogen. Mit Glauben hat das nichts zu tun, vielmehr mit Dran-Glauben-Müssen.

Als gelernter Ministrant fiel es mir freilich nicht sonderlich schwer, gestanzte Gebete aufzusagen ohne das mindeste innere Empfinden. Ich hatte mit formvollendetem Frömmeln kein Problem. Der Text war auch schnell gelernt. Was einzig mich verwunderte, war, kaum dass die letzte Silbe abgespult, ein allgemeines Stühlerücken, Lärmen und Rumpeln und wildes erlöstes Plappern anhub und auch geduldet wurde, während sich die entspannte Jungenschar durch die Tür auf die Treppe drängelte, um nur ja möglichst schnell der gedämpften Speisesaal-Atmosphäre zu entrinnen. Das hätte – nur mal angenommen, sie hätte sich auch nur ansatzweise eingestellt – jegliche Andacht zerfetzt in tausend Facetten der Diesseitigkeiten, Knuffereien und Blödelkram, was ich so aus den Messen in der Kirche nicht kannte. Da war es immer, nachdem die Gemeinde kollektiv ergriffen gebetet, geraunt, gemurmelt hatte, ganz feierlich still, und die Erlösung brachte, wenn überhaupt irgendetwas, die Orgel mit einem nochmaligen Kirchenlied zum Ausklang. So aber, als würde man einen Lichtschalter umdrehen, befremdete mich der rasante Stimmungs-Umschwung anfangs, bis ich ihn mir ebenfalls angewöhnte. Nichts wie raus in die halbe Stunde Freizeit, die noch verblieb bis zum Schlafengehen. Dann herrschte wieder Ruhe, Bettruhe! Nochmal austoben, wer weiß, wann man wieder Gelegenheit bekam ein vorlauter, tobender, balgender Bub zu sein. Wir waren es in dieser kindlichen „Männergesellschaft“ natürlich potenziert. Es galt sich in einer rasant bildenden Hackordnung zu behaupten, Freundeskreise zu etablieren, Feindschaften zu pflegen und die wenige „freie“ Zeit zwischen Frühmesse und Studierstunden, Schul- und Instrumentalunterricht, Chorproben und Übungsstunden mit Gruppendynamik zu erfüllen. Die Tage kamen mir damals überhaupt sehr lang vor.

Der Tag war minutiös verplant. Halb sieben aufstehen, um sieben Uhr pünktlich in Dreierreihen vor der Hauskapelle antreten, dann Frühmesse, halb acht Frühstück, anschließend Schulsachen zusammensuchen und punkt acht Uhr Schulbeginn. Ich kam in die dritte Klasse, in der auch noch einige Viertklässler unterrichtet wurden. Wie in einer Zwergschule befasste sich der Lehrer mal mit der einen Gruppe, während die andere zur „Stillbeschäftigung“ mit einer Aufgabe sich selbst überlassen blieb, dann wieder umgekehrt. Auf diese Weise lernte ich in der dritten auch schon den Stoff der vierten Unterrichtsklasse kennen, und manchmal wurden wir auch gemeinsam unterrichtet, etwa in Heimatkunde. Da gab es einen Sandkasten hinten im Raum, in dem die unmittelbare Umgebung des Domspatzenheims detailgetreu geformt, mit farbigem Kreidepulver die Naab, die Wiesen und Wälder und Straßen und Wege gekennzeichnet waren, die Bahnlinie ebenso wie das Dorf, dessen Häuser aus Kreidestückchen geschnitzt waren, das Schloss und die Brauerei und das Kirchlein von Penk, diese romanische Wehrburg, zu der wir des öfteren zu wandern hatten gelegentlich der Sonntagsausflüge oder, seltener, zu botanischen Exkursionen. Das nachgebildete Gelände umfasste die gesamte Etterzhausener Anhöhe nebst den umliegenden Höhenzügen und war sehr liebevoll gestaltet und daher unmittelbar anschaulich. Das also würde für die nächsten zwei Jahre meine Heimat sein. Ich fand sie ganz übersichtlich, weniger spektakulär.

Der bewaldete Höhenrücken, auf dessen vorderster Terrasse wir wohnten und zur Schule gingen, war übersät von Dolinen, Einbrüchen im porösen Kalkstein. Es gab auch Höhlen, die bekannteste war die Räuberhöhle, zu der wir fast jeden dritten Sonntag geführt wurden. Dort hatte man nicht nur einen fulminanten Blick auf das Naabtal, sondern auch reichlich Gelegenheit, sich bald forschend und suchend, bald wild verfolgend oder ermattet vom Klettern durch den Wald zwischen den Felsen zu schlagen, sich die Knöchel zu verstauchen oder einfach die frische Luft genießend sich zu unterhalten in wechselnden Formationen. Das waren die wenigen spaßigen „Auszeiten“, in denen wir sein konnten wie wir wollten, außer dass wir nicht zu lange trödeln durften, um nicht als Nachzügler derb angetrieben zu werden. Die vereinzelten Unterrichtsgänge fielen deutlich geordneter aus. Da galt es ja auch die Fauna gründlich zu erkunden, Namen, Blütenstand und die Formen der Blätter zu unterscheiden und hinterher Aufsätze darüber zu schreiben. Aber das kam, glaube ich, erst bei dem Lehrer der vierten Klasse in Gebrauch. Der erste Lehrer, mit dem ich hier konfrontiert war, kam mir vor wie ein Riese. Nicht nur, weil er deutlich größer war als ich, sondern weil er Hände wie Klodeckel und einen ziemlich quadratischen Schädel hatte. Ein Brackl-Mannsbild, welches die ganz „alte Schule“ verkörperte. In seinem weißen Laborkittel stand er wie ein Hüne vor uns und diktierte mit einem Lineal in der Hand, das ihm hin und wieder auch wie nebenbei „ausrutschte“, konnte brüllen wie ein Stier und dabei puterrot werden vor Zorn. Er galt als streng, aber gerecht, immerhin. Aber was war schon gerecht zu jener Zeit? Ohrfeigen, Tatzen, Arschversohlen mit der blanken Hand, das schien im recht und billig als pädagogisches Mittel. Der Typ säße heute längst im Knast. Über uns konnte er sein strenges Regiment unangefochten stülpen, und es schien, als wären ihm seine Lehrmethoden gar nicht als Straftaten bewusst geworden, vermutlich bis zu seiner Pensionierung nicht. Dabei schien er noch relativ jung. Auffällig war, dass er gänzlich „unbeweibt“ in dieser Abgeschiedenheit hauste im obersten Stockwerk des Neubaus; dort bewohnte er sein karges Junggesellen-Appartement, ohne dass ich ihn irgendwann „ausgehen“ gesehen hätte oder Besuch empfangen. Wir waren wohl seine einzige Aufgabe im Leben, und so nahm er sie ernst. Die Aufgabe war uns zu dressieren.

Manchmal nahm er sie zu ernst. Uns dagegen nicht. Weder als Kinder mit unseren Bedürfnissen, noch als lernende Schüler. Seine demoralisierenden Bemerkungen beim Einmaleins aufsagen, die bis hin zu schmählichen Beleidigungen reichten, sein offener Hohn über eine verunglückte Formulierung im Deutschaufsatz, seine Drangsalierungskünste gegenüber Schülern, die an der Rechentafel überfordert waren, sein harscher bis bedrohlicher Ton, wenn einer mit den Hausaufgaben nicht zurande gekommen war, das alles hatte den Hautgout von Drill, Unterwerfung, Kleinmachen. Sein Konzept schien aus der Hitlerzeit herzurühren, die ich nicht erlebt hatte, wohl aber er. Es fühlte sich genauso an. Fühlen war auch angesagt: „Wer nicht hören will, muss fühlen“, raunzte er, wenn er einem Delinquenten die Ohren lang zog. Manchmal lachte er auch aus übervollem Brustkasten, doch schon im nächsten Moment konnte das auch wieder ins Gegenteil umschlagen. Ich konnte gar nicht so schnell schauen wie es mich traf, wie der Blitz aus heiterem Himmel. Ich muss eine falsche Antwort gegeben oder Frage gestellt haben, die ihn ungehörig dünkte. Er riss mich am rechten Ohrläppchen hoch, zog meinen Kopf zurecht, reckte sein Kinn, kniff die Augen und schallerte mir im Fallenlassen eine Ohrfeige auf die linke Backe, die ich mein Lebtag nicht vergessen werde: Zuerst das trockene Reißgeräusch, dann das saftige Abklatschen, das sich für mich zunächst wie plumpsendes Dröhnen, dann nach Sirren und Flirren und schließlich wie wellenartiges Pfeifen hören ließ; danach erst die Wahrnehmung der Hitzewelle wie nach einer Atomexplosion, die mir als heißer Schwall in die Wange schoss, und schließlich nach der Benommenheit der Schrecksekunde die Gewissheit eines rasselnden Klingelns, das mir im Gehörgang blieb über Minuten. Erst allmählich, nachdem ich mich verdutzt und beschämt wieder auf den Stahlrohrstuhl gesetzt hatte, wurde mir klar: Das war eine Ohrfeige, keine Granatendetonation, sondern eine Erziehungsmaßnahme der bayerischen Art. Mir schwirrte und surrte der Kopf, und ich war für den Rest der Stunde benommen.

Das Ohr glühte und schwoll dick zu einem feist gekneteten Fleischklumpen, während der Schädel röhrend brummte und immer noch nachhallte von der Überraschungsattacke, der ich schutzlos ausgeliefert war. Ich hatte keinen Blick für meine Mitschüler mehr, doch vermute ich, dass sie schwer beeindruckt gewesen sein mussten von diesem Exempel katholischer Pädagogik. Das fing ja gut an. Dabei war ich kein schlechter Schüler. Ich galt als höflich und wohlerzogen. Ich war kein Rabauke. Wieso es mich mit solcher Wucht getroffen hat, kann ich mir bis heute nicht erklären. Es muss wohl an dem Lehrer gelegen haben, an seiner Tagesverfassung, an irgendeiner Laune. Wäre es anders gewesen, hätte ich einen Grund oder zumindest Anlass geliefert für seine völlig überzogene Aktion, hätte er mir zumindest eine Kurzamnesie zugefügt, dass ich mich daran nicht im Geringsten erinnern kann. Vielleicht hätte er es selbst gar nicht genau begründen können, hätte er sich danach vor einem Disziplinarausschuss rechtfertigen müssen. Er wusste, dass er das niemals musste. Es war ihm von oben keinerlei Grenze gesetzt. Nicht von der Internatsleitung jedenfalls. Wir waren ihm und seinem urplötzlich aufwallenden Jähzorn schutzlos ausgeliefert. Zum Glück brach der nicht täglich aus. Manchmal konnte er jovial burschikos wirken und krähte dann derb heiter: „Ruhe, Männer!“ Das geht 8-Jährigen runter wie ein Klacks Sahne. Wir fühlten uns wie kleine Erwachsene. Ein ähnlich herber Ton könnte vielleicht bei der HJ geherrscht haben. Vermutlich hatte er das von da. Wie auch immer, es sollte die erste und letzte Ohrfeige gewesen sein, die ich von diesem Berserker einstecken musste. Fortan holte ich mir meine Wochenration an Prügeln beim Direktor und dessen Erziehungsgehilfen ab, streng nach Strafkanon, und aus den nichtigsten Anlässen. Ich muss wohl eher verschüchtert gewesen sein, doch half es nicht. Ich war nicht devot genug, zumindest nicht genügend „unauffällig“. Es erwischte mich immer und immer wieder. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte, irgendeinen Vorwand gab es immer. Dann hieß es lapidar: „5 nach dem Mittagessen“. Will heißen: 5 Schläge mit dem Rohrstock auf die Fingerkuppen oder auf die Fingernägel – so viel Wahlfreiheit hatten wir. Es wurde in einem schwarzen Oktavheft notiert. Da gab es kein Entrinnen. Fünf gingen noch. Zehn wären schlimmer gewesen. Die Höchststrafe waren 15 Schläge. Fünf waren zu ertragen. Es ist wie mit Cholera und Pest. Da ist man froh, wenn es nur Fleckfieber ist. Die Drohung muss nur groß genug sein, dann empfindet man die geringere beinahe als Lappalie. Es dauerte nicht lange, bis mich die ersten Fünf trafen. Die rissen mich aus meinem Kindsein.

Von nun an war es aus mit Weinen und Wimmern. Keine Miene verziehen, kein Geflenne, nicht um Gnade winseln. Das macht sich schlecht vor den Kameraden. Aber noch schlechter vor einem selbst. Man ist doch keine Memme! Man gönnt doch dem Peiniger nicht den Triumph! Soll er doch schlagen mit seiner Rute, bis ihm selbst die Finger wehtun, von uns bekommt er kein Zugeständnis über das bloße Erdulden hinaus. Ich muss wohl unterschwellig sehr früh erkannt haben, dass ihm das Spaß machte, uns zu züchtigen. Auch wenn mir lange nicht klar war, dass das etwas mit sexueller Lust zu tun haben sollte. Aber das Blitzen in seinen Augen, das genussvolle Ausholen, die verhaltene Erregung beim Zuschlagen, das Zucken seiner Mundwinkel beim Zischen des Stocks und beim Patschen auf den Knöcheln, sein gieriger Blick in Erwartung eines etwaigen Wegzuckens der Hand, das ihm fünf weitere Schläge erlauben würde, all das hat sich mir eingebrannt wie einem Wandergesellen der Blick vom Hügel auf eine Stadtlandschaft, von der er noch nicht wissen kann, dass sie seine neue Heimat sein würde für die nächsten zwei Jahre. Der erste Blick erfasst so viel mehr als man realisieren und einordnen kann. Da ist schon alles zu sehen, aber noch nicht wirklich zu erkennen.

Er tat es routiniert, doch mit so viel Inbrunst wie beim heiligsten Moment des Gottesdienstes nicht. Er hob fast genießerisch die Augenbrauen, die glimmende Zigarette im Mundwinkel, hielt die Luft kurz an und krallte all seine zähe Kraft in den Moment des Zuschlagens – eruptiv, blitzschnell, zielsicher. Selten schlug er daneben; ich habe es nur wenige Male erlebt, dass er zu weit vorne schlug. Wobei ich sagen muss, dass es sich dann umso schmerzlicher anfühlte, wenn er nur die längsten zwei Finger der ausgestreckten Hand traf, vor allem auf die Fingernägel. Dann meinte ich den Mittelfinger kaum noch zu spüren vor Taubheit, bevor es dann umso heftiger pochte unterm Nagelbett. In der Regel verteilte es sich gleichmäßig über alle Finger; manchmal liefen sie blau an, meist waren sie nur gerötet, nachdem sie im ersten Moment blutlos bleich erschienen waren, wie im Schock. Mit zunehmender Rötung zog sich das Schmerzempfinden quälend dahin, es dauerte oft Minuten, ehe man wieder ein normal haptisches Gefühl bekam. Was sich der Quälgeist nur gedacht hat?! Jedes seiner Strafopfer war entweder Violinist oder Klavierspieler, und sollte seine Feinmotorik nicht von seinen Prügelorgien zerschunden bekommen. Das hinderte ihn nicht, manchmal auch Bambusstöcke zu benützen, deren feine Spreißel sich in die gepeinigten Fingerbeugen brannten. Oft scheute man sich die geschwollenen Adern überhaupt genauer anzusehen. So sind mir einmal die feinen Holzfasern über einem Bluterguss eingewachsen. Es dauerte tagelang, bis ich sie mir herauszuziehen traute. Erst musste die Haut darunter dick genug sein, um mir nicht eine neuerliche Wunde aufzureißen.

Im Religionsunterricht, den dieser Prügelpriester ebenfalls hielt, erfuhr ich ausgiebig vom Leiden Christi. Meine Identifikations-Möglichkeiten mit dem geschundenen „Menschheitserlöser“ wuchsen mit Anzahl und Intensität seiner brutalen Bestrafungen ins Unglaubliche. Nur hatte ich weder vor die Menschheit oder zumindest die Christenheit zu erlösen noch konnte ich auch nur ansatzweise auf eine Erlösung meiner selbst vertrauen. Für mich war oft zwei-, dreimal die Woche Karfreitag. Für andere jeden Tag. Es gab zum Beispiel einen, der schien ziemlich hartgesotten. An ihm prallten die heftigsten Stockschläge, die schnalzendsten Ohrfeigen, die schlimmsten verbalen Demütigungen angeblich ab, so machte er jedenfalls den Eindruck. Wahrscheinlich war er zuhause noch härter rangenommen worden, vielleicht war er auch gefühlskalt oder tatsächlich unempfindlicher. Jedenfalls teilte er gern aus – und steckte widerspruchslos ein. Höchstens ein verstohlenes Grinsen von unten herauf verriet, dass er überhaupt etwas dachte, und sei es nur: „Lächerlich, deine Prügel, ich bin Schlimmeres gewohnt“ oder „Schlag nur zu, du Arschloch, mach dich zum Deppen, mich kriegst du nicht klein“. Er war tatsächlich einen halben Kopf größer und massiver gebaut als wir Durchschnitts-Würstchen. Sein fahlblonder Schopf wurde manchmal so hin- und hergeschlagen, dass ihm der Rotz aus dem krebsroten Gesicht flog, doch er verzog keine Miene. Den hatten sie auf dem Kieker wie sonst kaum einen. Beinahe lückenlos jeden Tag dasselbe Spiel: Morgens um Sieben mussten wir uns nach dem Waschen und Anziehen in Dreierreihen anstellen vor der Hauskapelle, um die tägliche Morgenmesse zu erwarten, die bis halb acht dauerte. Danach erst würde es Frühstück geben, denn die Kommunion hatte man nüchtern zu empfangen.

Es war also eine ziemlich bleierne Dösigkeit in den verschlafenen Gesichtern, bis kurz bevor der Zeiger der elektrischen Uhr mit einem trockenen Klacken auf „fünf vor“ schnalzte. Dann begann das tägliche Ritual, zu dem alle endgültig aufwachten: Wer würde heute der Letzte sein – und folglich Prügel beziehen? Das war nämlich, seit der neue Präfekt da war, dieser abgehalfterte Bergmann aus dem Ruhrgebiet, der nun statt Kohleflöze unsere Körper schlug, ein ungeschriebenes Gesetz. Der Letzte, der in die Reihe trat, und „wegen dem wir alle so lang warten“ mussten, bekam seine Packung Ohrfeigen ab als morgendlichen Muntermacher. Die Meute wandte sich verstohlen um und erspähte den Delinquenten: Aha, der wieder. Wieder der! Aus dem Neubau kam er um die Ecke geschlurft, provozierend langsam, und stellte sich als Letzter in die Reihe, wohl wissend, dass ihm das die Morgenration auf nüchternen Magen einbringen würde. Er sah nicht einmal auf, wenn die klobige Hand des ausgewiesenen Nichtpädagogen sich an seinem fleischigen Gesicht vergriff. Eine links. Dann Innehalten. Strenger Blick nach vorn zu den Knabenreihen. Schnell drehten wir unsere Köpfe wieder nach vorn und starrten lauschend gegen die noch geschlossene Kapellentür. Würde jetzt das Kommando zum zweiten Schlag kommen? Es dauerte noch einen Moment. Denn erst gab es andere Kommandos.

Aus dem unmittelbar an den Gang grenzenden Waschraum krähte eine helle Kinderstimme: „Wasserhähne sind zu!“, und wie zur Bekräftigung scholl verhallt, von weiter her aus dem Neubau am Ende eines langen Gangs, eine zweite, etwas weniger schrille Meldung gleichen Wortlauts, wobei die letzte Silbe gedehnt nach oben gezogen wurde wie bei einem Hahnenschrei. Tatsächlich gab es in beiden Gebäudetrakten je einen „Waschraumverantwortlichen“, der zu kontrollieren hatte, dass kein Hahn mehr tröpfelte, aber auch, dass keine nassen Handtücher herumlagen oder vergessene Seifenschalen und ähnliches. Irgendetwas blieb immer liegen, meistens Waschlappen. In diese hatte, wie in alle Utensilien und Kleidungsstücke, besagte Wäschenummer eingenäht zu sein. Und wie zu erwarten, wurde die in ihrer Regelmäßigkeit schon zum Running Gag avancierte „338“ ausgerufen, in immer demselben rhythmischen Stakkato, weil so oft trainiert, und wie zum Hohn murmelte der „Gefangenenchor“ lässig gelangweilt, dennoch hämisch amüsiert den Familiennamen des „ewigen Verlierers“ in einer bedrohlichen Dehnung, wie zum Anzählen im Boxring. Und schon klatschte das triefende Corpus Delicti in die andere Gesichtshälfte mit der barschen Aufforderung: „Wegräumen!“ Batsch, noch ein Schlag auf den Hinterkopf im Wegducken, dann traf uns der lauernde Blick des Watschenausteilers, und wir rissen die Köpfe wieder geradeaus, um nicht seinen Unwillen auf uns zu ziehen. Eine Strafkompanie von früh auf gedrillten unfreiwilligen Kirchgängern, mit Hunger im Magen, zum Mitbeten und Singen genötigt, wartete, bis der Prügelknabe seine Verrichtungen beendet hatte und der Bergwerks-Erzieher zufrieden war. Dann riss der Vorderste punkt Sieben die breite Holztür auf, und wir strömten schlurfend und stolpernd die Treppe hinunter in die Frühmesse.

Die Bänke waren hart und kantig, jeder wusste seinen Platz und fand sein Gebets- und Gesangbuch, und schon begann die Veranstaltung mit einem Doppelglockenschlag vor der Sakristeitür. Es zelebrierte der Direktor selbst, der nicht nur Anstaltsleiter, Religionslehrer, oberster Zuchtmeister und Vorgesetzter dieses ungeschlachten Präfekten „in Zivil“ war, sondern auch unser Beichtvater. Eine größere Machtfülle und Amtsgewalt mag noch der Papst innehaben, für uns war er beinahe Gott persönlich. Niemand konnte gegen ihn an, wir waren ihm ausgeliefert mit Haut und Haar. Indes er war ein Mensch, mit tiefen inneren Abgründen und äußerer Ämterhäufung, die er rigoros zum Missbrauch nutzte. Er las die Gebete routiniert, scheuchte die Ministranten, wenn sie zu zaghaft Wasser und Wein in den Kelch gossen, und schielte manchmal mit prüfendem Blick über die Schulter, wenn er ein Räuspern vernahm, während er sich hochheiligst aus einer Oblate und einem Schluck säuerlichen Weins mit einem Tropfen Wasser vermengt den wahrhaftigen Leib des Herrn und dessen tatsächliches Blut herbei betete, und damit augenscheinlich so intensiv beschäftigt war, dass es doch einigermaßen verwundern konnte, dass er noch etwas anderes von der diesseitigen Welt wahrnahm als den Kelch und die Patene und das goldene Löffelchen. Einmal hielt er mit der salbungsvoll gemurmelten Wandlungsformel inne, spitzte die Ohren über dem rotgefurchten Nacken und drehte sich blitzschnell um, wie um eine Maus zu erwischen. Er schleuderte das goldene Kulttellerchen, auf dem die Hostie gelegen hatte, noch kurz bevor sie zum lebendigen Gott mutiert wäre, und schleuderte es gezielt wie einen scharfkantigen Diskus nach hinten in die verdutzte Menge, sehr zielsicher an die Schläfe eines unbedachten Flüsterers. Wir schreckten hoch aus unserer trägen Anteilnahme an der Gottwerdung des runden Plättchens, das er achtlos auf das Altartuch fallen ließ, und von dem er sich nun, hochrot angelaufen vor unheiligem Zorn, brüsk abwandte, um sich dem „Schwätzer“ zu widmen. So wichtig konnte der Höhepunkt seiner Liturgie gar nicht sein, als dass er nicht seine rachsüchtige Strafpädagogik vor das vornehmste Glaubensgeheimnis gestellt hätte. Mich empörte das mehr als dass ich es entlarvend fand, wie er seinen Gottesdienst unversehens zur Artistiknummer ausarten ließ, denn ich war damals durchaus religiös eingestellt.

Ich empfand es schlicht blasphemisch. Eine ruchlosere Entweihung der Eucharistie hätte keinem plündernden und brandschatzenden, doch allemal ungläubigen Hostienschänder gelingen können als diesem bigotten, priestergewandeten Choleriker. Ab da wandelte sich mein innerer Respekt vor seinem religiösen Brimborium in kühl beobachtende Hinterfragung all dessen, was er so von sich gab. Wenn er vom Dämon sprach, sah ich genau den in ihm. Wenn er von Versuchung faselte, erahnte ich, wen sie ergriffen haben musste, wenn er von Bekennern und Märtyrern sprach, dann wusste ich, er war keiner. Er war ein Sadist, ein in sich brodelnder, nur mühsam gezügelter Gewalttäter, ein falscher Priester, ein katholischer Krimineller, ein Klerikalfaschist. Nur oberflächlich umgemodelt, immer noch im Panzer, mit dem er durch die Sowjetunion gepflügt war, nur kosmetisch auf die „neumodische Demokratie“ umfrisiert, geschminkt, verkleidet. Unter der Soutane wähnte ich eine ebenso schwarze Uniform. Und unter dieser ein klaffendes Loch im drahtigen kurzen Rumpf, dort wo Menschen normalerweise ein Mitgefühl haben oder überhaupt ein Empfinden für andere.

Er hatte wohl nur ein Kalkül dafür, wer sich als Opfer eignete, wer sein nächstes werden würde und wie er sich an ihm abreagieren könnte. Taugte es zur Unterwerfung oder wehrte es sich? Hetzte es ihm womöglich die Eltern oder die Schulaufsicht an den Hals oder fügte es sich bereitwillig seinem Begehr, es zu demütigen, zu schlagen, zu verhöhnen? Bezüglich der Dienstaufsicht konnte er ganz beruhigt sein, die oblag einem Stiftungsrat aus Mitgliedern des Domkapitels und nicht zuletzt des Domkapellmeisters Georg Ratzinger, der selbst ein Jähzornbündel war und Verständnis haben musste für einen wie ihn. Der war schon damals mit Blindheit geschlagen und wollte nichts wissen von Meiers Terrorherrschaft und „da nicht hineinregieren“, wie er sich heute herausredet, wofür er doch eigentlich zuständig gewesen wäre. All das wusste ich damals noch nicht. Ich wusste nur: Es gab kein Entkommen. Es gab keine Blicke von außen. Es gab nur die brillenblitzenden Augen, die einen musterten und die gelbgeschmauchten Finger, denen ich restlos ausgeliefert schien. Sie verkörperten die absolute Macht in diesem weltfernen Mikrokosmos, der unsere Zuchtanstalt war.

Nach einer elend langen Schrecksekunde, während der das goldene Tellerchen zingend zu Boden geklirrt und blechern dengelnd mehrmals um den Rundrand gekullert endlich auf die Steinplatten geploppt war, hob der Getroffene den leicht gedellten Kultgegenstand auf und reichte ihn bedröppelt nach vorne durch die Bankreihen, bis der Vorderste auf das fordernde Geheiß wedelnder Finger hin aufstand und ihn dem wie versteinert verharrenden Priester mit angedeuteter Verbeugung darreichte, damit dieser mit dem unterbrochenen Zauber fortfahren konnte. Das tat er, indem er den Staub von dem malträtierten Parament blies und die Hostie ungerührt wieder darauflegte, um sie dann weiter zu weihen, als wäre nichts geschehen. Selten klang das Glockengerassel der Ministranten lächerlicher als bei diesem Vorgang, der in das beschwörende Hochhalten des trockenen Plätzchens gipfelt, auf dass jeder sehen könne, dass – nichts passiert. Also an diesem Tag war der Herr garantiert nicht anwesend, sonst wäre der Schweinepriester vom Schlag getroffen nach hinten gekippt und dumpf polternd rittlings auf die steinernen Altarstufen geplumpst. Ein Donnergrollen wäre das Mindeste gewesen, wenn nicht ein greller Blitz, der das Altartuch zerfetzt und die Kerzenleuchter herumgewirbelt und zerbeult hätte. Noch passender wäre gewesen, dass sich unter dem Kerl ein schwefeldampfender Höllenschlund aufgetan hätte, in den er quälend langsam hinabgezogen worden wäre. Ich saß bzw. kniete in der ersten Reihe und machte mich auf die Apokalypse gefasst. Doch nichts dergleichen geschah. Der Gottes-Nichtexistenz-Beweis hätte kaum drastischer ausfallen können. So dachte ich damals. Es ging alles seinen liturgischen Gang: Offertorium, Sanctus, Benedictus, Kommunion, Agnus Dei, Segen, aus. Wir gingen frühstücken. Das war’s dann auch mit der himmlischen Gerechtigkeit: Es gab keine. Der Satan war der, der von ihm predigte.

Es gab mehrere solcher Erlebnisse, die zeigten, wie Meier sein Priesteramt missbrauchte, um sich seinen persönlichen Spaß auf unserem Rücken zu gönnen. Zur Ohrenbeichte mussten wir vor einem Schlafsaal anstehen, in dem er den verzeihenden Beichtvater gab. Ich hatte mich in der Hauskapelle vorschriftsmäßig vorbereitet, mein Gewissen erforscht anhand des Beichtspiegels, und mit dem ehrlichen Vorsatz die Vergebung meiner Sünden zu erlangen trat ich an, stellte mich in die Reihe der Sünder und erwartete meine baldige Lossprechung. Der Vorletzte vor mir kam heraus und war sehr konsterniert. Er flüsterte etwas von „Absurd“ und „Unglaublich“ und erzählte aufgeregt, dass er zurückgeschickt werde in die Kapelle, um sein Gewissen aufs neu zu erforschen, er habe zu wenig gebeichtet. Nur zweimal gelogen zu haben war ihm eingefallen, doch das war offenbar nicht genug. Nun solle er sich noch andere Vergehen überlegen und erneut antreten. Später erzählte er mir, wie er beim zweiten Versuch das Blaue vom Himmel heruntergelogen habe; der Pfaffe war’s zufrieden und erteilte die Absolution. So wurden wir zu Lügnern erzogen. Zweimal lügen reichte nicht. Der Hahn musste ein drittes Mal krähen. Münchhausengeschichten habe er aufgetischt, vor allem aus dem sechsten Gebot, dem mit der Unkeuschheit, denn das hörte der Beichtvater am liebsten.

Andere konnten sich wegducken, unsichtbar machen, ich nicht. Selten gab es eine Woche, in der es mich nicht erwischte. So wuchsen meine Zweifel. So haben sie den Glauben aus mir herausgeprügelt. Eigentlich sollte ich dafür dankbar sein, sonst wäre ich noch heute vielleicht ein angepasster Duckmäuser, ein braver Untertan, ein frömmelnder Dulder. Doch gerade als der konnte ich in diesem Kinder-KZ nicht überleben. Ich suchte nach Auswegen, doch fand zunächst keine. Ich musste als 8-Jähriger mit dem Widerspruch zurechtkommen, dass hinter dem salbadernden Geschwätz von Nächstenliebe die Kindsmisshandlung lauerte und in der segnenden Hand der Rohrstock lag.

Es dauerte noch drei Jahre, bis ich reif war grundsätzlich mit der Institution zu brechen, die solche Verbrecher auf ihren Gehaltslisten hatte. Es war soweit: Ich wurde Atheist. Das Erziehungsziel schien zwar verfehlt, und dennoch war es anders als beabsichtigt erreicht: Ich war abgehärtet. Entweder du zerbrichst, passt dich an, oder du wachst auf und rebellierst. Ich neigte zum Aufwachen aus meiner langen, bewusstlosen Kindheit. Mir blieb gar nichts anderes übrig. Zum Glück kam, als ich gerade elf Jahre alt war, das Jahr 1968, mit all seinen Antworten auf meine Fragen. Ich war bereit. Schon hellhörig genug, die Signale zu vernehmen, und aufgeschlossen genug, um ihnen zu folgen. Ich erkannte das System als das, was es war: Eine Disziplinierungsmaschinerie. Es war nicht nur Meier.