Schlafe mein Prinzchen

Ein musikalischer Abend von Franz Wittenbrink – Uraufführung

Viel mehr als der Titel war mir nicht bekannt, als ich mich am Abend des 20. Juni auf den Weg ins „Berliner Ensemble “ machte, um mir die Premiere anzusehen. Ja natürlich, es sollte um sexuellen Missbrauch an Internatskindern gehen, das hatte mir Franz Wittenbrink noch am Telefon erzählt. Ich hatte ihn erst vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der Aufklärung und Aufarbeitung der Gewalterziehung und des sexuellen Missbrauchs in den Internaten der Regensburger Domspatzen kennengelernt. Persönlich begegnet sind wir uns früher nicht, als er sein Abitur gemacht hat, hatte ich gerade mein erstes Schuljahr in der berüchtigten Vorschule der Domspatzen in Etterzhausen überstanden. Die omnipräsente Gewalt haben wir beide erlebt, vom persönlichen sexuellen Missbrauch sind wir beide aus unterschiedlichen Gründen verschont geblieben, mitbekommen was da teilweise gelaufen ist haben wir trotzdem.
Das als Erklärung vorab, ich kann über die Inszenierung nur als teilweise Betroffener reden und schreiben. Die Beurteilung aus der Sicht eines neutralen Beobachters mag anders aussehen.
Der Abend ist zweigeteilt: erst wird das Geschehen bei den Regensburger Domspatzen dargestellt, dann folgt der nahtlose Übergang zu den Vorfällen der reformpädagogischen Odenwaldschule. Hier das erzkonservative katholische Vorzeigeinstitut, dort der von Befreiungsideologien geprägte linksliberale Gegenentwurf und beides führt – jeweils stark geprägt von Elitegedanken – zum gleichen haarsträubenden Resultat. In kurzen Dialogen und Reden wiederholen sich gleiches Vertuschungsverhalten und Beiseiteschieben jeglicher kritischer Nachfragen unter völlig verschiedenen Voraussetzungen. Geschickter hätte man es nicht darstellen können, welche Strukturen und Gegebenheiten den besonderen Nährboden bilden für die massiven Missbrauchsfälle, wie sie in den letzten sechs Jahren öffentlich bekannt geworden sind. Und so wird das Stück zum Lehrstück für alle, die ein bisschen daran mitarbeiten wollen, durch eigene Aufmerksamkeit solche Missstände rechtzeitig aufzudecken und möglicherweise auch zu verhindern. Dafür benötigt Franz Wittenbrink keinerlei skandalträchtige Gewalt- oder Missbrauchsdarstellungen. Vieles wird nur ansatzweise gezeigt, die „finale Handlung“ bleibt der Phantasie des Zuschauers überlassen. Aber genau das ist notwendig, wenn man dem Ansinnen des Regisseurs folgt, den er im Programmheft formuliert hat: „Kindesmissbrauch ist nicht zu verhindern, gesetzlich verboten ist er ohnehin. Aber man kann eine Gesellschaft dafür sensibilisieren. Dazu möge dieser Theaterabend beitragen“. Und man möchte nur noch hinzufügen, wenn durch die Sensibilisierung auch nur ein neuer Fall von Kindesmissbrauch verhindert werden kann, hat es sich schon gelohnt.
NatĂĽrlich erzählt die Inszenierung keine durchgehende Geschichte, vielmehr ist es ein schillernder Bilderbogen von Geschehnissen, wie sie die InternatsschĂĽler teilweise hundertfach erlebt haben, aber mehr wĂĽrde den Rahmen eines ĂĽblichen Theaterabends sprengen. FĂĽr mich als ehemals Betroffenen waren einige Szenen schmerzlich genug. Trotz sparsamen aber völlig ausreichendem BĂĽhnenbild und Ausstattung war ich einige Male plötzlich mitten in meiner eigenen Vergangenheit und ich will nicht verschweigen, dass mir bei zwei drei Szenen auch die Tränen der Wut ob dieser Vergangenheit ĂĽber die Wangen gelaufen sind. Deutlicher kann man wohl nicht beschreiben, wie real die Inszenierung gelungen ist, wie nahe an der Wirklichkeit. Und dass auch ein kleinerer Teil des Publikums an zwei drei Stellen mit verlegenem Gelächter reagiert hat, zeigt nur allzu deutlich, wie hilflos mancher auch heute noch ist, wenn er mit diesem Geschehen mitten in unserer Gesellschaft konfrontiert wird. Die Darsteller wirken durchgehend glaubwĂĽrdig und authentisch obwohl alle mindestens zwei, einige sogar drei unterschiedliche Rollen ĂĽbernehmen. Die Rollen der jĂĽngeren Buben werden – aufgrund der Thematik – durchweg von Frauen gespielt, was dem Ganzen aufgrund geschickt gemachter KostĂĽme und Masken, keinerlei Abbruch tut. Die musikalische Leistung ist dem Theater und fĂĽr diese Inszenierung angemessen, wer anderes erwartet sollte in die Staatsoper oder Philharmonie gehen. Hätte ich vorher gewusst, dass hier eine AuffĂĽhrung von 1:45 Stunden am StĂĽck – ohne Pause – durchgezogen wird, wäre ich skeptisch gewesen, so fiel fĂĽr mich – nach gefĂĽhlt einer guten Stunde – der Vorhang und mit Schlussapplaus und kurzer Zugabe waren mehr als zwei Stunden verflogen, da spricht die Inszenierung fĂĽr sich selbst.
Fazit: Das sollte sich eigentlich jeder ansehen, für ehemalige Internatsschüler mag es schmerzliche Momente geben, aber die lassen sich aushalten. Wer allerdings vom sexuellen Missbrauch betroffen ist, sollte sich einen Besuch gut überlegen und dies möglichst nur mit einer vertrauten Begleitung machen.
Michael Sieber