Brief an das Landgericht MĂĽnchen 1989

Bereits 1989 kam es in München im Rahmen eines Mordprozesses zu Berichten über die Missstände im Internat und am Musikgymnasium der Regensburger Domspatzen. Es gab dazu auch entsprechende Presseberichte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war beispielsweise ein Domkapellmeister Georg Ratzinger über diese Vorwürfe informiert und nicht erst 20 Jahre später, wie er einer fehlinformierten Öffentlichkeit einreden möchte. Ein öffentliches Dementi seitens Schul- und Internatsleitungen veranlasste einen „Ehemaligen“ zu dem nachfolgenden Brief an das Landgericht in München:

N.N., 27.10.1989

An das Schwurgericht beim Landgericht MĂĽnchen I
z. Hd. Herrn Vorsitzender Dr. Alert
z. Hd. Strafverteidigung
im ProzeĂź geg. N.N.

Aussage zum ProzeĂź N.N.

Sehr geehrte Herren!

…
Ich habe vor wenigen Tagen in der „MZ“ (Mittelbayrische Zeitung) einen Artikel mit der Überschrift „Domspatzen: Bei uns gab es nie Prügel“ gelesen und kann diese Behauptung einfach nicht im Raum stehen lassen.
Dieser Bericht hat mich nachhaltig erschüttert, er beschäftigt mich seit Tagen. Mich verfolgt nämlich ebenfalls ein „Domspatzentrauma“, und ich glaube, es verfolgt einen großen Prozentsatz ehemals „schlechter“ Schüler des Musikgymnasiums.
Darf ich mich erst einmal vorstellen, um Ihnen ein kurzes Bild meiner Persönlichkeit zu geben. Mein Name ist … (die Daten liegen der Redaktion vollständig vor und sind überprüft, zum Schutz des Autoren und seiner heutigen gesellschaftlichen Stellung bleiben sie hier unveröffentlicht). …
Ich wuchs in einem wohlbehüteten, wenn auch vaterlosen Elternhaus auf, besuchte zunächst die heimatliche Volksschule und sollte nach der 4. Klasse das Gymnasium besuchen. Da meine Mutter berufstätig war und kein Auto hatte, kam nur ein Internatsplatz infrage. Gemeinsam (voller Bewunderung für die schönsingenden Chorknaben!) entschieden wir uns fürs Musikgymnasium in Regensburg., in das ich 1964 eintrat, Meine anfängliche Begeisterung „legte“ sich jedoch sehr bald, spätestens nämlich als ich vor der Tatsache stand,, dass ich in eine bereits „fertige“ Klassengemeinschaft derjenigen einbrach, die aus der Vorschule Etterzhausen gekommen waren und sich seit Jahr und Tag kannten. Ich befand mich also von Anfang an in der Situation eines „Sitzenbleibers“ nach den „Großen Ferien“. Schüler mit wenig oder wie bei mir erzieherisch „gedämpftem“ Durchsetzungsvermögen waren von Anfang an „Stiefkinder“.
Die Erziehung in Vorschule, Schule und Internat trug das Siegel der absoluten Leistungsgesellschaft.
Die Behandlung war „gerecht“ aber in keiner Weise kindgerecht. Das Ziel waren lauter kleine Erwachsene zum Vorzeigen, diszipliniert, zielstrebig, zu Spitzenleistungen bestimmt. Wer nicht „parierte“, sei es aus „Unwillen“ oder aus Schwäche, wurde gnadenlos diskriminiert und verfolgt.
Es gab drei Chöre: Den „ersten“, der auf Konzertreisen gehen durfte (aber auch hier hinter den Kulissen aufs strengste gedrillt und reglementiert), den „zweiten“, der eventuell noch aushilfsweise fahren durfte bzw. kleinere Auftritte bestritt (der eine unter Führung von Prof. H. Schrems, der andere unter Leitung von Domkapellmeister G. Ratzinger – beide in unterschwelliger Konkurrenz zueinander) und schließlich ein dritter Chor für die regelmäßigen Kirchendienste. (heute „Lasso“- „Palestrina“- und „Reger“(?) Chor). Außerdem gab es eine „Vorschule“, welche der Ausbildung schwächerer Stimmen diente. „Du bist ja bloß in der Vorschule“ (Du bist ja eigentlich gar kein Domspatz) hieß es da bei Erziehern und Mitschülern. Die Klasse war also in vier Gruppen aufgeteilt. Besonders schlimm fielen diese Unterschiede natürlich zur Konzertreisezeit auf, wenn alle „Guten“ außer Haus waren und nach Rückkehr mit ihren Erlebnissen prahlten.
Ich beschreibe dies alles so ausführlich, um ein Bild der Atmosphäre im „Kaff“ (so hieß und heißt die Schule bei den Schülern) zu zeichnen.
Und da waren schließlich noch die Erzieher, die einem durch öffentlich demonstrierte hochnäsige oder auch nur „mitleidige“ Worte und Gesten kundtaten, dass man hier eigentlich nur geduldet war und bei gleichbleibender Leistung hier nichts zu suchen hatte.
Die Heimerziehung stand unter Aufsicht eines Präfekten (kath. Geistlicher). Er war über 2 Meter groß und hatte den bezeichnenden Spitznamen „Prügel“ (Anm.d.Red: .es handelt sich hierbei um den damaligen Leiter der Dompräbende mit dem irreführenden Namen Freundl).
Bereits geringfügige Anlässe, wie z.B. mehrmaliges „Schwätzen mit dem Nachbarn“ während der (absolut stummen) Studierzeiten forderten bei ihm empfindliche Ohrfeigen. Nicht spontan, sozusagen im Affekt, auch nicht „selten“ oder „gelegentlich“, vielmehr „alltäglich“ und mit der Art eines „Scharfrichters“ wurde bestraft. Der „Delinquent“ musste nach vorne zum Präfekten kommen, sich vor ihn hinstellen, den Kopf hoch, und dann schlug ihm der mit seinen riesigen Händen ins Gesicht. Einmal links, einmal rechts (die Finger konnte man manchmal tagelang an den Wangen sehen). Zuckte der Schüler oder versuchte gar eine Schutzhaltung einzunehmen, so winkte Hochwürden nocheinmal lächelnd mit dem Zeigefinger und wiederholte die „Übung“.
Bei schweren Verfehlungen, wie z.B. „Störungen der Nachtruhe“ durch Unterhaltung mit den Zimmergenossen gab’s je nach Laune ein „Schnellgericht“ (aus dem Bett aufstehen und zwei oder mehrere der vorgeschriebenen „Watschn“) oder, was viel schlimmer war, eine „Verurteilung“ fĂĽr den nächsten Morgen („der — oder die … kommen morgen um 7:30 Uhr zu mir“). Manchen lieĂź danach die Angst nicht mehr einschlafen, wie versteinert lag man im Bett, immer mit dem Gedanken „morgen um halb acht…“Zum genannten Zeitpunkt musste sich der so Bestrafte im Zimmer des Präfekten ĂĽber den Tisch legen und bekam (nach ĂśberprĂĽfung des Hosenbodens auf etwaiges Dämmmaterial – es waren nur dĂĽnne Hosen erlaubt) mit einem Bambusrohr zwischen 2 und 5 kräftige Schläge, die selbstverständlich oft fĂĽr Tage blutunterlaufene Striemen hinterlieĂźen.
Es kann also keine Rede sein von „gelegentlichen Ohrfeigen“, wie es die heutige Internatsleitung darstellen möchte, auch waren es keine „Affekthandlungen“ sondern regelrechter Psychoterror mit „Verurteilung“ und „Vollstreckung“.
Überhaupt war das Verhältnis Präfekt : „Zögling“ übersteigert autoritär. Beispielsweise saßen die „Herren“ während den Mahlzeiten vor uns Schülern auf einem Podest am weiß gedeckten Tisch (wir an kahlen Resopaltischen vor Blechgeschirr) und bekamen regelmäßig anderes Essen als wir. – Heute wahrscheinlich undenkbar.
Aber nicht nur im Internat, auch in der Schule waren Schläge an der Tagesordnung. Lediglich in der Methodik gab es Unterschiede. So hatte Musikerzieher A. beispielsweise eine Vorliebe für „Kopfnüsse“, die er extrem hart zu verteilen wusste. Auch mit der „Rückhand“ und seinem Ehering schlug er brutal zu. Bei einem Schüler kam es sogar auf diese Weise einmal zu einer Platzwunde an der Lippe. …
Mein Biologielehrer, Herr L., hatte eine andere „Handschrift“: Er verteilte sogenannte „Nackenschläge“, mit flacher Hand von unten her hart gegen den Hinterkopf geschlagen (denke ich heute an die möglichen medizinischen Folgen eines solchen mit Wucht geführten occipitalen Schlages, so wird mir nachträglich noch schlecht!). Den zu bestrafenden Schüler ließ er zudem noch wählen zwischen dem erwähnten Nackenschlag und einem „Spitz“, einem Tritt mit (damals modisch bedingt besonders spitzigem) Schuh in den „Allerwertesten“.
„Spezialität“ eines Chorleiters war das Ziehen an den „Schmalzfedern“ (den kurzen Haaren im überaus empfindlichen Schläfenbereich).
Daneben herrschte noch Psychoterror einzelner Lehrkräfte, die durch wildes Schreien die Klasse in Panik versetzten, (wir waren ja bei Eintritt erst 10 oder 11 Jahre alt) oder ungeliebte Schüler vor ihren Kameraden moralisch niederzumachen suchten.
Das Schlimmste aber war der geschürte Ehrgeiz der „Elite“ von den ersten Chören gegen sogenannte „Versager“. Klassenstrafen trugen zu diesem Kesseltreiben bei und einmal erinnere ich mich mit Sicherheit an die daraus resultierende Verfolgung eines Mitschülers, die in massiver „Klassendresche“ für den armen endete. Für „Schwache“ war einfach kein Platz.
Im Rückblick auf meine Domspatzenjahre bleiben fast nur negative Erinnerungen (weil ich kein „guter“ Schüler war) obwohl ich stets bemüht war, diese Erinnerungen zu verdrängen. Als ich 1968 nach Rohr ins Johannes-Nepomuk-Gymnasium wechselte, kam ich mir vor „wie im Himmel“!
Wenn ich heute nach über 20 Jahren, in Regensburg Richtung Nibelungenbrücke fahre, riskiere ich einen schnellen Blick auf das „Kaff“ und denke mit Unwohlsein an jene Zeit zurück. Assoziationen wie „Gefängnis“, „Straflager“ oder „Barrasdrill“ verbinde ich mit dem Namen der Regensburger Domspatzen.

Schlussbemerkung
Dieses Schreiben soll keine „Abrechnung“ mit meiner Schulzeit sein, ich will da nicht missverstanden werden.
Die Erziehung muß natürlich vor dem Hintergrund „vergangener Zeiten“ gesehen werden. Vieles, was heute unverständlich erscheint galt damals als „normal“, das meiste jedoch auch damals schon als übertrieben und unverantwortlich.
Es gab auch gute und gerechte Lehrer und Erzieher, die erzieherisch ihrer Zeit voraus waren. Auch daran erinnert sich der ehemalige SchĂĽler.
Ich schreibe diese Stellungnahme auch nicht aus Profilierungssucht. Im Gegenteil, es war mir unangenehm, diese Erinnerungen wieder auffrischen zu mĂĽssen. Auch bin ich der Ansicht, man solle die alten Zeiten (und ihre Fehler) ruhen lassen und versuchen es heute besser zu machen.
Aber ich habe einen stark geschärften Sinn für Gerechtigkeit und finde, es geht nicht an, wenn man heute diese Tatsachen leugnen will, wenn ehemalige Domspatzen aus Angst vor „Nestbeschmutzung“ (die damals schon ehrgeizigen halten ja heute noch regelmäßig „Ehemaligentreffen“ mit Ehemaligenchorgemeinschaft ab) heute den Lorbeerkranz hochhalten und durch die Nebel der Vergangenheit ein „Goldenes Zeitalter“ zu sehen glauben.
Und die offizielle Stellungnahme eines Domspatzendirektors ist genauso verlogen und verfälscht wie die traute Kolpingatmosphäre der ehemaligen Internatsprospekte.
Es gibt sicher hunderte psychisch traumatisierter Domspatzen, auch wenn es so gar nicht in die heile Regensburger Welt passen will. Die Fassade trügt ….
Hochachtungsvoll
N.N.
P.S.: Ich bin selbstverständlich in der Lage, meine Aussagen auch zu beeiden.