01 Misshandlung im Vorschulinternat

Der folgende Bericht wurde von einem ehemaligen Domspatzenschüler bereits 2010 verfasst. Er hat sich damals in einem achtseitigen Brief an den ehemaligen Domkapellmeister Georg Ratzinger gewandt. Eine Antwort hat er nie erhalten. Erst im März 2015 erhielt er als einzige Reaktion den Serienbrief von Generalvikar Fuchs in dem ihm 2.500,- € „in Anerkennung des erlittenen Leids“ angeboten wurden. Besonders beachtenswert ist die Schilderung der „Strafaktion“ im Beisein von Georg Ratzinger.

Misshandlung im Vorschulinternat der Regensburger Domspatzen in Etterzhausen

Aufgewachsen in Riedenburg, im beschaulichen, aber etwas abgelegenen Altmühltal, war ich als 11-jähriger Junge ein ziemlich kleines, schmächtiges Kind – ein „Grischperl“ wie man in Niederbayern damals zu sagen pflegte. Gegen Ende der dritten Klasse machten sich meine Eltern wohl Gedanken über den weiteren schulischen Werdegang ihres Sohnes. Mein Vater leitete die örtliche AOK. Ich war kein schlechter Schüler und der Aufbruchsstimmung der frühen 60-er Jahre entsprechend, sollte es eine weiterführende Schule sein. Die nächstgelegenen Gymnasien, in Ingolstadt und Regensburg, waren beide etwas über 35 Kilometer entfernt. Für einen kleinen Fahrschüler schien dieser Schulweg zu weit. Deshalb empfahl der Klassenlehrer ein Internat. Das Internat der Domspatzen war billig und die kirchliche Trägerschaft entsprach dem Weltbild meiner Eltern, vor allem dem meiner Mutter. Folglich präsentierten mich meine Eltern in der Vorschule der Regensburger Domspatzen in Etterzhausen. Nach dem Vorsingen von „Großer Gott wir loben Dich“ war die Entscheidung gefallen. Ich sollte dort die vierte Volksschulklasse besuchen um anschließend auf das Gymnasium zu wechseln.
Für mich war das Jahr 1963 in Etterzhausen mein „Besuch in der Hölle“. In den letzten dreißig Jahren habe ich immer wieder, wenn zufällig das Gespräch darauf kam, im Freundes- und Bekanntenkreis Anekdoten über meinen damaligen Aufenthalt erzählt. Entweder habe ich ungläubiges Staunen geerntet, oder ich stieß auf gar nicht so wenige Leidensgenossen, die in Internaten in Dillingen, in Regensburg oder in St. Ottilien ähnliches erlebt hatten.
Vor rund vier Wochen druckte die Aichacher Zeitung als Essay auf Seite drei die ganzseitige Schilderung eines Unternehmers aus Dietfurt. Er müsste vom Alter her zeitgleich mit mir bei den Domspatzen gewesen sein, ohne dass ich mich heute seiner erinnere. Er bringt seine Erfahrungen auf den Punkt, indem er retrospektiv feststellt, dass dieser Aufenthalt „die schlimmste Zeit meines Lebens“ war.
Ich dachte bisher, dass ich trotz aller Torturen diese Zeit relativ stabil und unbeschadet hinter mich gebracht hätte. Aber die Vorgänge um Bischof Mixa und das mediale Echo der letzten Wochen nähren da erhebliche Zweifel. Vor allem, weil ich irritiert feststelle welche massiven Hassgefühle in mir hochsteigen. Zwei Lehren habe ich für mich aus dem Jahr bei den Domspatzen gezogen: Ich würde eigene Kinder niemals in ein Internat geben. Diese Lehre gründet auf der Vermutung, dass diese geschlossenen Welten leicht entarten. Für Kinder, insbesondere für die etwas sensibleren unter Ihnen, können solche länger anhaltende Ohnmachtserfahrungen und die dabei erlebten Gefühle Sicherheit und Selbstvertrauen nachhaltig zerstören. Als meine Tochter, wohl im gleichen Alter wie ich damals, in ihrer „Hanni-und-Nanni-Phase“ vom Internatsleben schwärmte, habe ich fast panisch reagiert und mit allerlei Argumenten Internate als Ausgeburt des Bösen verteufelt. Zum Zweiten hat dieser Aufenthalt mein Verhältnis zur Katholischen Kirche auf Jahrzehnte verändert. So mit zwanzig habe mich mit Kirchengeschichte, genauer mit den Verbrechen der Kirche, beschäftigt. Der damaligen Ablehnung ist eine tolerante Gleichgültigkeit gewichen. „Wer will soll – ich brauche sie nicht“. In meiner beruflichen Tätigkeit als Leiter eines kommunalen Alten- und Behindertenreferats habe ich viel mit Leitungen und Personal von kirchlichen Einrichtungen zu tun. Ich weiß, aus vielfältiger Erfahrung, zwischen den dort tätigen Mitarbeitern, mit oft sehr hehren Motiven und der Institution Kirche, mit ihrem Streben nach Macht und Kapitalanhäufung zu unterscheiden. Aber mein Misstrauen gegenüber Heuchelei, bigotter Doppelmoral und übertriebenen Loyalitäten begleitet mich nicht erst seit der aktuellen Missbrauchsdebatte.
Der Drill begann schon vor dem Frühstück. In Etterzhausen mussten wir Schüler uns mehrmals am Tag in Zweierreihe anstellen; vor der Frühmesse gegen sechs Uhr, beim Gang zum Frühstück, vor dem Aufbruch zur Schule und nochmals am Abend, um zur Abendandacht zu gehen. Unbedingte Vorgabe war die Ausrichtung in Zweierreihen und absolutes Silentium. Losgehen durften wir erst, wenn absolute Ruhe herrschte. So standen mehrere Dutzend Schüler oft 10 oder 15 Minuten lang in Zweierreihe im Flur, weil es einzelnen Kindern schwer fiel ihre Gespräche einzustellen. „Ich kann warten. Dann bekommt ihr halt kaltes Essen.“ So der damalige Leiter Direktor Meier. Ich habe diesen schlanken, mittlerweile verstorbenen Pfarrer nur Brevier lesend in Erinnerung. Scheinbar in sein Buch oder ins Gebet vertieft, schritt er neben den wartenden Schülern auf und ab. Aus heutiger Sicht ist für mich die Analogie zu einer Schafherde mit einem Hütehund bestimmend. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied: Hunde lassen von einem Lamm wieder ab, sobald sich dieses in die Herde integriert. Ohne Vorwarnung und mit voller Wucht ausholend, schlug Meier urplötzlich das sicher kiloschwere Buch einem Kind auf den Kopf. Er konnte dabei total ausrasten und wie im Rausch drosch er mit dem Buch auf einen willkürlich ausgewählten Schüler ein, bis dieser zu Boden ging. Nicht selten zog er den verängstigten Jungen daraufhin an den Haaren wieder hoch. Viele gingen auf diesen Steinfliesen zu Boden. Im Rückblick, als Erwachsener, vermute ich, dass dieser Priester sein ausdauerndes Brevier lesen nur als Staffage vortäuschte. Er war mit seinen Augen und Ohren überall und diese Bestrafungsaktionen erfolgten in einer solchen Häufigkeit und das Ausmaß der Gewalt und die Geringfügigkeit der Taten, die als Vorwand für seine Prügelorgien herhalten mussten, standen in einem krassen Missverhältnis. Als Kind erleidet man diesen Missbrauch. Erklären kann man ihn sich nicht. Heute, über vierzig Jahre später, kann ich nur extreme Perversionen als Erklärungsmuster für solch ein Verhalten finden. In letzter Zeit .habe ich mich öfters gefragt, wie häufig diese Züchtigungen vorkamen. Ich denke, dass kein Tag ohne dieses Ritual verging.
In den ersten Wochen meines Aufenthaltes wurden wir als Ministranten ausgebildet. Mein Fleiß beim Erlernen der lateinischen Gebete muss dem Ernst der Aufgabe nicht angemessen gewesen sein, denn als ich das erste Mal zum Ministrieren der Früh-messe eingeteilt wurde, hatte ich deutliche Texthänger. Mein Pech war, dass der andere Ministrant weder textlich noch in seinem Wissen über Ablauf der Messe besser Bescheid wusste als ich. Meier drehte sich während der laufenden Messe zu uns um und schrie mich an: „Trag das Buch rüber!“. Ich zitterte für den Rest des Gottes-dienstes. Nach der Messfeier, in der Sakristei, gab er mir eine Ohrfeige, dass ich gegen einen Schrank flog. Dann mussten ich und mein Leidensgenosse, der soweit ich mich erinnere N.N. (Name liegt der Red. vor) hieß, die Lederhose herunterlassen. Der Schul- und Internatsleiter griff sich einen Bambusstock und drosch auf mein Gesäß ein. Er schlug mich solange, bis der Bambusstock brach. Wobei das Verb „Schlagen“ den Vorgang eher verniedlicht. Er prügelte in seiner Wut auf uns ein. Dann bekam ich zur Strafe die Auflage, die Messliturgie 100 Mal abzuschreiben. In meiner kindlichen Schrift benötigte ich etwas mehr als vier Seiten um das „Ad Deum“ und“ das „Confiteor Deo omnipotenti“ und die weiteren Gebete abzuschreiben. Die nächsten drei, vier Wochen durfte ich nicht an Freizeitstunden teilnehmen. Die Gebete sind mir heute, 3 Jahrzehnte später, immer noch geläufig. Wegen diesem fehlenden Lerneifer hatte ich als elfjähriger „Ersttäter“ eine Strafarbeit von rund 450 Seiten auferlegt bekommen. Auch für die pädagogisch sicher rigideren Prinzipien der 60-er Jahre ist dies ein ungewöhnliches Strafmaß.
Uns wurde in unzähligen Situationen vermittelt, dass wir sündige und schlechte Menschen seien. Unsere armen Eltern und der liebe Gott müssten sich ob all unserer Schlechtigkeit grämen. So waren die monatlichen Elternbesuchstage für unsere Kinderseelen ein ambivalentes Ereignis. Einerseits waren diese Besuche die einzige Brücke in eine Welt außerhalb des mit einem Stacheldraht bewehrten Internatsgeländes; andererseits erinnere ich mich der Angst, Meier oder der Klassenlehrer (der einzige der nicht prügelte) oder der Chorleiter würden gegenüber den Eltern meine Vergehen beklagen. Wir durften das Internatsgelände, außer zu gelegentlichen Zahnarztbesuchen, nicht verlassen. Radio und Fernsehen war verboten und Briefe unzensiert nach Hause zu schreiben, war ein schlimmes Vergehen. Sonntags, nach der Frühmesse musste jeder Schüler einen Brief an seine Eltern verfassen, der, angeblich um Rechtschreibfehler zu korrigieren, vom Erzieher gegengelesen wurde. Ich habe erlebt, dass ein Junge, der sehr unter Heimweh litt, seine Eltern bat, ihn zu besuchen. Meier hat den Brief vor versammelter Klasse vorgelesen und dann demonstrativ zerrissen. So war ich jedes Mal verwundert, wenn mich Meier am Besuchssonntag auf Rückfrage meiner Eltern, als guten und braven Schüler beschrieb. Bei einem dieser Besuche blätterte mein Vater in den Schulheften auf meinem Schultisch und ihm fiel der Stapel Strafarbeit in die Hände. Er fragte mich verwundert, was das denn sei und ich gestand mein Versagen beim Ministrieren. Da nahm mein Vater die wohl zwei- bis dreihundert Seiten, die ich bis dahin gefertigt hatte, und ging mit mir zu Meier. Mein Vater war erbost, und verlange Rechenschaft, wie der Internatsleiter dazu käme einem Kind solch eine unmenschliche Strafarbeit aufzuerlegen. Ohne eine Antwort abzuwarten, bestand er darauf, dass ich nicht mehr ministrieren müsse. Meier gab sofort nach und in der Folge war ich der vermutlich einzige Domspatz, der keine Messdienste mehr zu leisten hatte. Die Freude währte nur kurz und war alles andere als ein Privileg. Von Mitschülern bekam ich den Spitznamen „Teufelsministrant“. Kinder in diesem Alter können unerbittlich sein.
Als Kind hatte ich eine starke, in den Symptomen körperliche Aversion gegen Fleischspeisen. Meiner Mutter war es in den Jahren zuvor schwer gefallen mit meinem Essverhalten zurechtzukommen. Ich liebte die Freitage mit süßen Mehlspeisen. Bei Schweinefleisch und Wurst bekam ich Brechreiz und stellte mich quer. Bei den Domspatzen war dieses Verhalten die Quelle einer Leidensgeschichte. An sich stellten die Mahlzeiten die schönste Zeit in der streng geregelten Tagesstruktur in Etterzhausen dar. Während des Essens war ein Junge als Vorleser eingeteilt. „Robinson Crusoe“, „Lederstrumpf“ und andere Jugendbücher waren im Laufe des Jahres Tischlektüre und vertauschten die trostlose Welt in der wir lebten, mit fernen Ländern und ein Leben voller Abenteuer. Als Meier gewahr wurde, dass ich meinen Teller nicht leerte, wenn Fleischgerichte angeboten wurden, kam er regelmäßig an meinem Tisch und kontrollierte ob ich alles verspeiste. Die erste Zeit saß ich regelmäßig eine Stunde länger als alle anderen im Speisesaal vor einem Stück Fleisch, vor dem mir graute. Eine Zeit gelang es mir andere rechtzeitig dafür zu gewinnen, meine Fleischportion mit zu verzehren. Als er dies erfuhr, musste ich alleine an einem kleinen Tisch unterhalb des Podiums, auf dem der Tisch der Lehrkräfte stand, essen. Heimlich und unbemerkt steckte ich das Fleisch regelmäßig in meine Hosentasche und log, ich hätte aufgegessen. Mein Schwindel wurde nicht bemerkt und ich durfte wieder meinen alten Platz einnehmen.
Die Leitung der Domspatzen in Regensburg und insbesondere der damalige Kapell-meister, Georg Ratzinger legen in letzter Zeit, nachdem die Verbrechen des Herrn Meier ruchbar wurden, großen Wert darauf, die Eigenständigkeit der Einrichtung in Etterzhausen zu betonen. Es seien ihm (Ratzinger) zwar Gerüchte und Erzählungen ehemaliger Zöglinge der Vorschule zu Ohren gekommen. Er hatte aber weder Kenntnisse noch Einfluss. Im Interview mit der Passauer Neuen Presse versteigt er sich zu der Aussage er sei froh gewesen, als 1980 die Prügelstrafe als Erziehungsmittel verboten wurde.
„Leid getan haben mir die betroffenen Opfer, deren körperliche und seelische Integrität verletzt wurde“…. „Bei uns im Haus ist über diese Dinge nie gesprochen worden. Das Ausmaß dieser brachialen Methoden von Direktor M. war mir nicht bekannt. Wenn ich gewusst hätte, mit welch übertriebener Heftigkeit er vorging, dann hätte ich etwas gesagt. Natürlich – heute verurteilt man es umso mehr, als man sensibler geworden ist. Auch ich tue das. Gleichzeitig bitte ich die Opfer um Verzeihung.“
Zur Realität: Es war ein besonderes Privileg. Die Vorschüler durften zusammen mit dem bereits damals international renommierten Hauptchor eine dreitägige Konzertreise per Sonderzug nach Garmisch Partenkirchen, ins Kloster Ettal, und auf die Zugspitze unternehmen. Wir logierten in der Jugendherberge in Farchant vor Gar-misch. In dieser Herberge gab es als Hauptgericht einen Schweinebraten. Ich stopfte das Fleisch, wie gewohnt, heimlich in die Hosentasche um es später zu entsorgen. Dabei wurde ich von Meier beobachtet. Er sprang auf und kam drohend vom Lehrertisch zu mir her. Dann schleifte er mich an den Haaren zu seinem Esstisch zurück und hob mich an den Haaren hoch, dass ich über dem Boden schwebte. Anschließend schlug er mich wie besessen, wo immer er mich treffen konnte, bis er nach wohl einem Dutzend Schlägen erschöpft aufhörte. Im großen Speisesaal war es totenstill. Ratzinger saß daneben und das Bild hat sich in mein Gehirn eingegraben wie schlecht verheilte Narben in einem jugendlichen Körper. Er lachte. Er hätte die Autorität gehabt, seinem Kollegen Einhalt zu gebieten. Es war mindestens Feigheit, wohl eher bewusstes kumpelhaftes Einvernehmen. Jetzt zu behaupten in der einzigen Filiale der Domspatzen seinen über zwei, drei Jahrzehnte Dinge geschehen, die ihm „nicht bekannt“ waren ist eine Verhöhnung der damaligen Schüler und Opfer. Da wird die Bitte um Verzeihung zur berechnenden Phrase.
Ich habe in Etterzhausen viele Gewaltexzesse aber keine sexuellen Ãœbergriffe erlebt. Allerdings erinnere ich mich an ein seltsames Ritual. Am Ende des Flures, welcher die Schlafsäle mit der Heimkirche verband, gab es einen Waschraum mit mehreren Reihen Waschbecken. Nach der Abendandacht mussten uns bettfertig machen und in Schlafanzughose zur Abendtoilette antreten. Meier stand Brevier lesend im Türrahmen um jedes Kind auf Sauberkeit zu kontrollieren. Die ersten drei Schüler hatten kaum eine Chance beim ersten Versuch diesen Sauberkeitscheck zu passieren. So schielten alle zur Türe um nicht erster aber doch unter den ersten zehn Jungs zu sein. Man hatte vor Meier die Zähne zu fletschen, musste die Handflächen ausstrecken, dann die Handrücken zeigen. Anschließend galt es den rechten und den linken Fuß mit den Händen anzuheben um die Sauberkeit der Fußsohlen zu demonstrieren. Meier griff dann an den Gummi der Schlafanzughose, zog diese vom Körper weg und kontrollierte – ja was denn – das ist mir bis heute nicht klar. Er ließ den Gummi zurückschnellen und fällte sein Urteil: zurück zum Waschbecken oder in den Schlafsaal. Dort durften wir noch lesen, bis zehn oder fünfzehn Minuten später das Licht ausgeschaltet wurde.
Neben den täglichen Chorproben durfte jeder Domspatz ein Instrument erlernen – Klavier oder Geige. Pro Woche gab es eine feste Unterrichtsstunde und obligatorisch war die tägliche halbe Stunde üben. Es gab acht bis zehn kleine Zimmer, die sich an einem Flur aufreihten und die im Wechsel von den „Virtuosen“ belegt wurden. Jede Türe war mit einem Spion versehen. Meier schlenderte, Gebete lesend, den Flur auf und ab. Verstummte in einem Zimmer das Spiel, spähte er durch den Spion um den Grund der Spielunterbrechung zu ermitteln. Sah er ein Kind, das die Zeit im Übungs-raum absaß ohne zu üben, stürmte er ins Zimmer und es hagelte Strafen. Je nach Stimmungslage verteilte er Watschen oder er zog an Haaren und Ohren. Mir ist das im Jahr sicher an die zwanzig Mal passiert.
Schläge gab es für alles und nichts. Ein Junge hatte ein kleines Transistorradio, wie er in den Sechzigern in Mode kam. In diesen Monaten gelangten die ersten Songs der Beatles zu Popularität. Diese Musik zu konsumieren war uns strengstens untersagt. Ich erinnere mich, dass wir zu viert, im Garten, hinter einer Hecke versteckt, „I want to hold your hand“ lauschten. Nach unserem Verständnis und den von der Leitung propagierten Werten war es eine schlimme Sünde solch eine Musik zu konsumieren oder gar zu huldigen. Da entdeckte uns der Musiklehrer, wenn ich mich richtig entsinne, ein Herr Erkes oder Eckes. Er zog uns an den Ohren ins Haus und dort nahm uns Meier in Empfang. Es hagelte Schläge.
Es war ein despotisches, gewalttätiges und in seinen Handlungen schwer kalkulier-bares Regime, dem wir Kinder schutzlos ausgeliefert waren. Aber was dieses Regime von Straflagern, wie ich sie aus der Literatur kenne, unterschied, war die subtile Art, mit der diese Übergriffe als notwendig für unser Seelenheil dargestellt wurden. Wir wurden so lange schlechtgeredet, bis wir jede Strafe als gerecht und gottgegeben akzeptierten. Symptomatisch war der Umgang mit den vorpubertären Zärtlichkeiten dieser Jungs, fern der Wärme ihrer Elternhäuser. Ich wurde einmal im Bett eines Jungen aus dem Allgäu entdeckt. Wir lagen unter der Bettdecke und ich kann mich gar nicht erinnern, dass dies eine explizit sexuelle Komponente hatte. Es war noch das Alter in dem Onanie keine Rolle spielte und Doktorspiele der höchste Ausdruck des Interesses für einen anderen Körper darstellten. Ein Präfekt, der mich nächtens in dieser Situation ertappte, ließ mich und den anderen Jungen stundenlang im Flur stehen.
In den Ferien versuchte ich meine Eltern zu überzeugen, mich aus dem Internat in Etterzhausen zu nehmen. Nach einem Jahr hatte ich Erfolg und durfte als Fahrschüler auf ein „weltliches“ Gymnasiums wechseln. Ich dachte, meine Klagen hätten den Ausschlag für diesen Schulwechsel gegeben. Letzte Woche erzählte mir mein 84-jähriger Vater, der Bürgermeister von Peintling hätte sie damals angesprochen und über die menschenunwürdigen Bedingungen in Etterzhausen erzählt. Das hat sie damals bewogen einen Schulwechsel vorzunehmen.
Meine tiefreligiöse Mutter ist in diesen Tagen verunsichert. Ohne es direkt anzusprechen, stellt sie mir verklausulierte Fragen wie die damaligen Übergriffe ausgesehen hätten. Dahinter steckt wohl die Angst, ihr Kind wäre damals Opfer pädophiler Pfarrer gewesen. Dies wäre nach ihren Wertvorstellungen ein Supergau. Gewalt ist weniger stigmatisiert. Es scheint für die gegenwärtige Diskussion symptomatisch, dass sich die Eltern von Opfern eher grämen etwas falsch gemacht zu haben als mancher Täter, der zynisch und eitel herumlügt. Den Bischof meiner neuen Heimatregion Augsburg würde ich, trotz der gebotenen Unschuldsvermutung, dieser Kategorie zuordnen.
Kurz, in den letzten Wochen wird mir diese längst überwunden geglaubte Angst und Demütigung wieder gegenwärtig. Weder der Bruder des Papstes noch die heutige Leitung haben deutliche Worte gefunden, konkret zu benennen, wie unter dem ruhmreichen „Label“ dieses Knabenchors Kriminelle mehrere Jahrzehnte ihre Verbrechen ausüben durften. Es gibt viel „Weihrauchsbetroffenheit“ die ein klares Bild vernebelt.
Ich werde wohl ein Leben lang diese Erfahrungen in mir tragen. Aber Ich erwarte keine Entschuldigung. Mein Misstrauen ist heute so groß, dass ich sie schwerlich als glaubhaft akzeptieren würde. Missbrauchsbeauftragte sind für mich keine Partner des Dialogs. Seriös wäre für mich eine strafrechtliche Aufarbeitung wie sie jedes andere Verbrechen auch nach sich zieht. Aber die Taten sind verjährt. Meier ist tot und die Taten seiner Gehilfen sind mir nicht mehr so detailgetreu präsent.
Einen ernstgemeinten und sehr deutlichen Wunsch habe ich an die heute Verantwortlichen. Geld ist in unserem Rechtssystem das Äquivalent zur Abgeltung von Unrecht. Für die Kirche gelten da keine anderen Maßstäbe. Für mich selbst wünsche ich kein Geld. Aber die Diözese Regensburg und die Domspatzen sollen ein Zeichen setzen. Ich möchte, dass die acht Kinder aus der Jugendhilfeeinrichtung Schrobenhausen, die, so der Sonderermittler Knott, wohl großes Unrecht erfahren haben, je € 1.000,- als Spende erhalten. Dies kann ohne Anerkennung einer Schuld erfolgen. Diese Menschen haben viel Zivilcourage und Bürgersinn gezeigt, als sie trotz der Bezichtigung Lügner zu sein, ihre eidesstattlichen Erklärungen Aufrecht erhielten. Sie haben den Stein ins Rollen gebracht. Damit wären jegliche Forderungen meinerseits abgegolten.