Watschen und Weidenruten

Der folgende Artikel erschien am 4./5. November 1989 in der Mittelbayerischen Zeitung. Wenige Tage später kam der Fall der Mauer und im Rahmen der allgemeinen Euphorie wurde das Thema sehr schnell beerdigt.

Der harte Drill der Regensburger Domspatzen in den 60er Jahren:

Watschen und Weidenruten als Erziehungsmittel

Schlimme Erinnerungen an die Vorschule in Etterzhausen /Selbst während der Messe setzte es Ohrfeigen

Von Ulrike Botzler und Peter Brielmaier

Regensburg. Ein Münchner Mordprozeß sorgte bei den Domspatzen vor kurzem für große Aufregung: Der Angeklagte berief sich darauf, dass er durch die unmenschlichen Prügel bei dem weltberühmten Chor einen seelischen Knacks abbekommen habe und letztlich auf die schiefe Bahn geraten sei. Während Dirigent und Internatsleiter gerade auf Tournee waren, berief die „Stallwache“ kurzerhand eine Pressekonferenz ein. Tenor der Aussagen: Bei den Domspatzen gab es außer den zeitüblichen „Watschen“ keine Prügelszenen (die MZ berichtete mehrfach). Diese Darstellung rief bei ehemaligen Domspatzen heftigen Widerspruch hervor.

In mehreren Interviews erzählten ehemalige Domspatzen über die Internatserziehung in den 60er Jahren. Obwohl zwischen den einzelnen Gesprächspartnern zum Teil keine Verbindungen bestanden, ergaben sich frappierende Übereinstimmungen zwischen den Berichten. Da die geschilderten Dinge alle 20 Jahre zurückliegen und es keinerlei Hinweise auf neue Wiederholungen gibt, hat die Redaktion die Namen der damals Verantwortlichen, die heute teilweise wichtige Posten im kirchlichen Bereich bekleiden, aber auch die Namen der Betroffenen ausgelassen oder geändert.

Beim Spaziergang Ruten gesammelt

Die schlimmsten Erinnerungen haben die ehemaligen Domspatzen an die Vorschule für die 3. und 4. Klasse, die damals in Etterzhausen untergebracht war. „Wenn ich an Etterzhausen denke, fallen mir sofort die Sonntagsspaziergänge ein. Da gab es ein paar eifrige Streber, die haben für die Präfekten Weidenruten abgeschnitten und aufpoliert, mit denen wir dann abends geschlagen wurden“, erzählt einer der Ehemaligen. „Das ist hundertprozentig in meiner Erinnerung, da habe ich nichts hinzugebastelt.“

Abends mussten alle Schüler antreten. „Meistens waren es vier oder fünf Sünder, die ihre Abreibung bekamen.“ Die Strafen waren fein abgestuft. Es begann mit Schlägen auf die Hände. „Wenn das Vergehen etwas schwerer war, musste man seinen Hintern dafür hinhalten. Wir haben versucht die Schmerzen zu mildern, indem wir mehrere Unterhosen angezogen haben. Der Präfekt hat das bald herausbekommen und vorher Unterhosenkontrolle gemacht.

In Etterzhausen prügelte auch der Internatsleiter, ein Geistlicher, die Kinder mit dem Stock. Den angehenden Domspatzen konnte es sogar passieren, dass sie während der morgendlichen Messe, die jeden Tag besucht werden mussten, eine Ohrfeige erhielten, „dass die Brille hinter den Altar flog“, falls sie beim Ministrieren einen Fehler machten.

Ein Präfekt namens „Prügel“

In den frühen 60er Jahren empfanden die Schüler zwischen Etterzhausen und dem Internat in Regensburg noch keine gravierenden Unterschiede. Ein berüchtigter „Erzieher“ im Regensburger Internat hatte den bezeichnenden Spitznamen „Prügel“. Ein Name, der in allen Berichten über die frühe Zeit immer wiederkehrt. Die Steigerung der körperlichen Strafe durch psychologische Mittel ist heute noch vielen in schlimmer Erinnerung: „Bei schweren Verfehlungen wie Störung der Nachtruhe gab es je nach Laune ein Schnellgericht oder, was viel schlimmer war, eine Verurteilung für den nächsten Morgen: ,der … kommt morgen um 7:30 Uhr zu mir’. Manchen ließ danach die Angst nicht einschlafen, wie versteinert lag man im Bett.“

Am nächsten Morgen musste der Betreffende bei „Prügel“ antreten, sich über den Tisch legen und bekam mit dem Bambusrohr zwei oder fünf kräftige Schläge, „die selbstverständlich oft für Tage blutunterlaufene Striemen hinterließen“. Diese Dinge könne man freilich nicht verallgemeinern, das sei eher selten passiert, meint Claus D. „Nicht jeder, der geprügelt wurde, ist mit Striemen rausgekommen.“

Am Regensburger Internat änderte sich die Situation bereits ab Mitte der 60er grundlegend. Ein Internatsschüler berichtet: „Man muß einen klaren Unterschied machen zwischen Regensburg und der Vorschule in Etterzhausen.“ Während in Etterzhausen zu dieser Zeit noch die Weidenrute in Gebrauch war, „wurde in Regensburg nicht so geprügelt“. „Für jeden, der aus Etterzhausen kam, war Regensburg wie ein Schlaraffenland.“

Unter dem „Druck-System“ in Etterzhausen litten die Schüler auch noch Anfang der 70er Jahre, als der Stock außer Mode kam. „Die Zeit in Regensburg beurteile ich fast ausschließlich positiv. Ganz anders dagegen Etterzhausen. Ich habe ein starkes Gerechtigkeitsempfinden. Zweimal bin ich dort vom Präfekten geschlagen worden, völlig unberechtigt.“ Das „Kindsein“ sei viel zu kurz gekommen.

„Die pädagogische Seite in Regensburg war dagegen sehr, sehr gut“, berichtet der ehemalige Domspatz weiter. „Ich war in der fünften Klasse wegen einer Lungenentzündung sechs Wochen krank, davon vier Wochen im Krankenhaus.“ Während dieser Zeit wurde er täglich vom Präfekten besucht, der mit ihm lernte. „Sogar der Domkapellmeister hat sich sehen lassen.“ Er habe sehr viel von der Erziehung im Regensburger Internat profitiert.

Für ihn steht deshalb auch fest, dass er später, wenn er einen musikalischen Sohn haben sollte, diesen jederzeit aufs Domspatzengymnasium geben würde. Freilich wehrt er sich dagegen, die Vergangenheit zu verklären. „Man soll die Sache nicht zu hochputschen und ich hätte auch nicht Stellung genommen. Aber wenn man dann so pharisäerhafte Aussagen von Leuten liest, von denen man weiß, dass sie selbst es zumindest vom Hörensagen wissen, dann ist das einfach eine Frechheit.“

Wie reagierten die Eltern auf diese Erziehungsmethoden? „Wenn man solche Sachen zu Hause erzählt hat, dann hieß es: so schlimm kann es ja nicht sein“, so erklärt einer, warum diese Dinge scheinbar unbeachtet passieren konnten. Viele wollten ihren Eltern auch nicht erzählen, weil sie Angst hatten, diese würden den Erziehern recht geben.

„Kinder vergessen sehr schnell“

„Außerdem vergessen Kinder in dem Alter auch schneller oder verdrängen das.“ Manche Eltern wussten davon, missbilligten es vielleicht auch, aber hatten keine andere Wahl. „Meine Mutter hat zu der Zeit keine andere Möglichkeit gehabt als Alleinerziehende, denn sie arbeitete tagsüber und war froh, dass sie mich untergebracht hatte“, erinnert sich ein Ehemaliger. „Aber sie hat selbst darunter gelitten.“

Und wie haben die Domspatzen damals selbst diese Behandlung beurteilt? „Man hat als Kind gefühlsmäßig sehr genau unterscheiden können, ob sich das Ganze auf der leichten Watschn-Ebene abgespielt hat. Das hat man dann auch akzeptiert, weil man wirklich etwas ausgefressen hatte. Aber ich kann mich sehr genau an Situationen erinnern, wo man ein mulmiges Gefühl gehabt hat und gedacht: Das kann doch nicht richtig sein.“ Zusammenfassend meint einer: „Mann kann doch nicht so blauäugig sein zu behaupten, dass bei den Domspatzen nie Kinder geprügelt wurden – ich hab gedacht mir verbiegst die Augen, als ich das gelesen habe.“

(unter einem Foto einiger Domspatzen von 1963 stand noch folgender Text: „In früheren Jahrzehnten wurden die Regensburger Domspatzen mit einer unglaublichen Härte erzogen.“)